Gegen die Niederlage wehrte sich die Gruppe mit einer Beschwerde vor dem VGH in Mannheim. Mit Erfolg: Die obersten Verwaltungsrichter des Landes rüffelten die unterste Instanz: "Auch elektronische Dokumente existieren im Rechtssinn und können insbesondere auch Gegenstand einer Akteneinsicht sein." Notfalls müsse die Bahn die Simulation bei der Gruner AG anfordern, falls sie nur dort verwahrt sei, um den Ingenieuren 22 Einsicht zu ermöglichen, entschied das Gericht im Juni 2021. Die Zwangsvollstreckung sei rechtens.
Das versuchte die PSU mit zahlreichen Schriftsätzen an das Verwaltungsgericht zu verhindern. Zuletzt behauptete ihr Rechtsbeistand, dass die Simulationsdateien nicht mehr existieren und bereits im Jahr 2016 gelöscht wurden. Aus Sicht des Freiburger Rechtanwalts Frank-Ulrich Mann, der die Ingenieure 22 vertritt, eine Lüge. Noch im Jahr 2020 habe sich die Gruner AG gegenüber seinem Mandanten ausdrücklich bereit erklärt, Einsicht in die Simulationen zu gewähren, entgegnet er. "Das wäre völlig unsinnig, wenn die Dateien längst gelöscht gewesen wären. Die Einsichtnahme scheiterte nur an der fehlenden Zustimmung der Schuldnerin (Anm. der Red.: gemeint ist die PSU)", so Mann in einem Schriftsatz, der am vergangenen Freitag ans Verwaltungsgericht ging.
"Irgendwelche Schreiben, die Lügen enthalten könnten, sind kein geeignetes Beweismittel", sagt Mann und verlangt inzwischen nicht nur die Vernehmung von leitenden Mitarbeitern der PSU und der Gruner AG vor dem Verwaltungsgericht, sondern hat auch einen Antrag auf Zwangshaft für den PSU-Chef gestellt, die dem bereits vom VGH verfügten Mittel der Zwangsvollstreckung zur Durchsetzung verhelfen soll. Und er verweist auf einen früheren Fall von Geheimniskrämerei: Der bisherige Verlauf des Gerichts- und des Zwangsvollstreckungsverfahrens erinnere stark an das Verhalten der PSU-Vorgängergesellschaft DB ProjektBau GmbH im Fall der sogenannten Azer-Liste, erwähnt Mann.
Am 25. März 2011 hatte der damalige Oberbauleiter des Projekts Stuttgart 21, Hany Azer, eine Liste mit 120 Risiken und einer Chance einem hochrangigen Gremium der Deutschen Bahn vorgelegt. Offenbar drohten Zusatzkosten in Milliardenhöhe, nachdem man zunächst den Gesamtwertumfang um mindestens 850 Millionen Euro heruntergerechnet hatte, um den Kostendeckel von 4,526 Milliarden Euro zu halten sowie die Hürde der Unkündbarkeit der Stuttgart-21-Verträge bis zum Stichtag (31. Dezember 2009) zu nehmen.
Dem "Stern" wurde seinerzeit die geheime Liste zugespielt, das Magazin veröffentlichte sie auszugsweise im Frühjahr 2011. Zeitgleich klagte das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 beim Verwaltungsgericht Berlin auf Einsichtnahme in die Azer-Liste. Vergleichbar zum aktuellen Fall hatte die S-21-Projektgesellschaft damals beharrlich behauptet, nicht im Besitz des Dokuments zu sein. Erst im November 2015, nachdem die Berliner Richter Verfasser Azer und den damaligen Bahnvorstand Volker Kefer unter Androhung von Ordnungshaft zur Vernehmung vorgeladen hatten, rückte die Bahn die Risiken-Liste raus. Zwischenzeitlich hatte die Volksabstimmung im November 2011 eine Mehrheit für eine Beibehaltung des Finanzierungsanteils des Landes an Stuttgart 21 – und damit für den Weiterbau – ergeben, und im März 2013 war der Kostendeckel des Projekts um zwei Milliarden Euro angehoben worden.
Warum im aktuellen Simulationsfall Zwangshaft gegen PSU-Geschäftsführer Drescher unverhältnismäßig sein soll, wie es der Bahn-Anwalt behauptet, erschließt sich Rechtanwalt Mann nicht. "Es geht um ein Milliardenprojekt. Die Bahn will offensichtlich verschleiern, dass sie den Brandschutz und insbesondere die Evakuierung von Menschen im Brandfall in einem der Tunnel nicht beherrscht. Der Nachweis ihres Unvermögens anhand der angeblich verschwundenen Dateien könnte das gesamte Projekt zu Fall bringen", schreibt er im jüngsten Schriftsatz. Das juristisch mildere Mittel eines Zwangsgeldes wäre angesichts dieser Umstände völlig wirkungslos.
Auf Anfrage zur drohenden Inhaftnahme ihres Geschäftsführers antwortet die Bahn ausweichend: "Der vor dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg im Jahr 2019 geschlossene Vergleich auf Akteneinsicht ist erfüllt. Der Antrag ist somit unzulässig und unbegründet", teilt ein Sprecher mit.
Aktualisierung, 27.01.2022:
Erst nach Redaktionsschluss am Dienstag wurde bekannt, dass das Verwaltungsgericht Stuttgart den Antrag auf Zwangshaft für Olaf Drescher mittlerweile abgelehnt hat. "Das entspricht der bisherigen Linie des VG, welche der VGH bislang immer korrigiert hat", kommentiert dies Dieter Reicherter. "Also machen wir dort wieder weiter".
8 Kommentare verfügbar
Markus Koch
am 03.02.2022Was machen eigentlich die Grünen samt MP und Verkehrsminister in der Sache. Zumal "wir" als Land ja auch ein Geschäftspartner der Bahn bei dem Projekt sind?
Sind gerade alle Augen mit Coronakruste verklebt oder wird da mit aller…