Dass diese Zeit schöngerechnet ist, vermuten seither die "Ingenieure 22". Die projektkritische Gruppe hatte sich Einsicht in Unterlagen zum Tunnel-Rettungskonzept des Projekts vor Gericht erstritten (Kontext berichtete). "Die Simulationen sind manipulierte Best-Case-Szenarien", machte ihr Sprecher Wolfgang Jakubeit dies an mehreren Punkten fest. So sei unterstellt, dass ein Zug mittig zwischen zwei Rettungsstollen steht. Diese ermöglichen im Abstand von 500 Metern den Übergang in die benachbarte Tunnelröhre. Dass der nächstliegende Stollen durch das Brandgeschehen versperrt sein könnte, was den Fluchtweg auf bis zu 500 Meter verlängert, werde ignoriert. Zudem betrage die Ausstiegshöhe von Zug auf Fluchtweg mehr als 90 Zentimeter, was für Kinder, ältere und mobilitätseingeschränkte Menschen unüberwindbar sei, so Jakubeit. Für diese müssten die Zugbegleiter zunächst die in den Decken installierten Notleitern aufstellen. Die Simulation sei zudem mit einem Zug ohne Sitze durchgeführt worden. Vor allem bemängelten Jakubeit und seine Mitstreiter aber, dass weder Hitze- noch Rauchentwicklung berücksichtigt worden seien. Auch falle Panikverhalten in der Simulation unter den Tisch.
Nur ein "kaltes Ereignis" als Grundlage
Der Verdacht auf Trickserei hat sich mittlerweile bestätigt. Zwar wiederholte die Bahn noch im vergangenen September gegenüber dem Stuttgarter Gemeinderat, dass die Schweizer Gutachterfirma Gruner AG die Evakuierungszeit auf der "Folie 11" durch Computersimulationen bestätigt habe. Die Fraktionsgemeinschaft "Die FrAktion" (Linke, SÖS, Piraten, Tierschutzpartei) hatte im Mai detaillierte Auskunft zur Sicherheit in den S-21-Tunneln beantragt. Die schriftliche Stellungnahme des Konzerns barg jedoch ein brisantes Eingeständnis: Der betreffenden Simulation ist kein "heißes Ereignis" zugrunde gelegt, wie ein Zugvollbrand im Fachjargon heißt. "Untersuchungsgegenstand war kein Brandereignis, sondern die Evakuierung eines Zuges in einem zweiröhrigen, eingleisigen Tunnel über Querverbindungen bei einem kalten Ereignis im Fall einer technischen Störung wie etwa eines Oberleitungsschadens oder einer Antriebsstörung", heißt es wörtlich.
Das wirft die Frage auf, welchen Sinn die seit 2014 immer wieder ins Feld geführte Simulation überhaupt ergibt. Denn es spräche nicht nur gegen jede Vernunft, sondern auch gegen bahninterne Vorschriften, wenn das Zugpersonal bei einem Oberleitungsschaden die Notevakuierung des liegengebliebenen Zuges einleiten würde. Üblicherweise werden Pannenzüge erst geräumt, nachdem zusätzliche Rettungskräfte eingetroffen sind. Dies gilt auf Freilandstrecken wie in Tunneln. Erklärungen zu dieser Widersprüchlichkeit liefert die Bahn bis heute keine.
Argumentiert die Bahn mit einer Fata Morgana?
Stattdessen mehren sich die Hinweise, dass die "Folie 11"-Simulation eine Art Fata Morgana ist. Weder das Regierungspräsidium Stuttgart noch die Berufsfeuerwehr der Landeshauptstadt, neben der Bahn im Arbeitskreis Brandschutz vertreten, haben sie zu Gesicht bekommen. "Nein", heißt es von beiden auf eine entsprechende Kontext-Anfrage. "Das wäre auch gar nicht möglich, weil die S-21-Projektgesellschaft gar nicht über diese Simulation verfügt", sagt Dieter Reicherter vom Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21. Vielmehr habe die Gruner AG mit Datum 17. Juni 2014, also rund fünf Monate nach der fraglichen AK-Sitzung, lediglich einen Bericht über die Simulationen erstellt, so der ehemalige Richter. Auch aus diesem sei nicht ersichtlich, wann die Simulation durchgeführt wurde. "Jedenfalls gelangte die Projektgesellschaft nie in den Besitz der Simulationen selbst", so Reicherter.
7 Kommentare verfügbar
Lisa Wagner
am 13.04.2021Schon lange möchte ich schreiben, weil mir auf dem Hinweis zum gesamten Dossier "Das Jahrhundertloch - Stuttgart 21" die Grafik auffällt:
Es wird die Neigung der künftigen Bahnsteighalle des HbH-Stuttgart dargestellt mit 15…