Das Erbe des Maidan
Kyrychenko, der sich als Patriot bezeichnet, war als Freiwilliger in der Ostukraine und hat dort einen Freund verloren, wegen des Krieges ist der Kontakt zur Cousine abgebrochen. Auf seinen damaligen Einsatz ist er stolz: Zusammen mit anderen Aktiven sammelte er Geld, stellte Pakete mit blutstillenden Medikamenten zusammen und fuhr sie in die Dörfer an der Front.
Erfahrungen im Umgang mit Verletzten hatte er bereits auf dem "Euromaidan" gesammelt, der Revolution von 2013/14, die das Land veränderte: Er leistete Erste Hilfe, als die Polizei auf die Protestierenden schoss. Amüsiert erinnert sich Kyrychenko daran, wie er mit seinem damals sechs Monate alten Sohn im Auto den DemonstrantInnen Reifen und Benzin für die Barrikaden brachte. Wurde er auf dem Weg angehalten, verwies er auf das schlafende Kind und durfte passieren. Seiner Frau erzählte er nichts davon.
Auf die Frage, was vom Maidan bleibt, antwortet Kyrychenko, ohne zu zögern. Politisch habe sich nichts geändert: "Ein Schritt vor, einer zurück." Was ihm Hoffnung bereitet, ist die neu entstandene Zivilgesellschaft. "Heute wissen wir, dass wir uns rasch organisieren können." Hoffnung in Menschen, deren Weg auch darum speziell ist, weil in vielen Ländern des postsowjetischen Raums eine offene Gesellschaft weiterhin nicht existiert.
Mögen sich die Nachrichten auch überschlagen, in Kiew geht das Leben seinen gewohnten Gang. Die Restaurants sind gut gefüllt, vor den Kaffeebuden und den Pfannkuchenständen auf den prächtigen Boulevards bilden sich Schlangen, im grauen Februarhimmel blinken die Reste der Weihnachtsdekoration. Auf den Plakaten am Straßenrand wird den "Helden der Freiwilligenbataillone" gedankt. Und in den Schulen bereitet man die Kinder auf die Evakuierung vor.
Als die großen westlichen Medien über die Eskalation zu berichten begannen, hat bei vielen ein leichtes Panikgefühl eingesetzt. Die ukrainische Presse zog nach, publizierte Listen von Gegenständen, die im Fall einer Flucht in den Notfallkoffer gehören, und Übersichten über bombensichere Unterschlüpfe in den Parkhäusern und Kellern, Metrostationen und Bunkern der Stadt. Dass Großbritannien und die USA den Abzug ihrer DiplomatInnen ankündigten, trug nicht gerade zur Beruhigung bei.
Nicht mit der Sprache im Streit
Alla Zamanska und Mark Belorusets werden sich selbst bei einem russischen Einmarsch nicht von der Stelle bewegen. "Mark hat die Repression des KGB erlebt, die Drohanrufe und die Angriffe im Hauseingang. Wovor sollen wir uns noch fürchten?", fragt Zamanska. Zusammen mit ihrem Mann sitzt die Regisseurin in einem Café mit großer Kuchenauswahl unweit ihrer Wohnung im Stadtzentrum. Mark Belorusets ist ein Mann der Literatur – der schmächtige 78-Jährige ist preisgekrönter Übersetzer.
Er beklagt sich, dass durch den Konflikt mit Russland auch die Sprache unter Druck geraten sei. "Russisch gilt den Nationalisten als Sprache des Feindes. Aber wir sind nicht mit der Sprache im Streit, sondern mit Putins Totalitarismus." Die Drohung einer Invasion sei bloß dessen Druckmittel, um seine imperiale Idee zu verwirklichen. Belorusets hat unter anderem Paul Celan ins Russische übertragen, kürzlich auch an einem Buch zur Schweizer Lyrik mitgearbeitet, mit Gedichten von Pedro Lenz und Nora Gomringer. Projekte wie dieses, das beide im Land gesprochenen Sprachen – Ukrainisch und Russisch – zusammenbringt, seien für ihn auch ein Mittel, um die Menschen zu einen. Wenn Belorusets spricht, blitzt in seinen Augen kämpferischer Schalk auf. Als Dissident hat er unter dem Sowjetregime gelitten, die Erfahrung prägt ihn bis heute.
Und die Zukunft? "Heute sind bei uns Wilde und Diebe an der Macht, es regieren Korruption und Lüge", meint die Theaterschaffende Zamanska. "Aber die neue Generation wird ein neues Land aufbauen, das hoffe ich sehr." Und Belorusets fügt in seiner Mischung aus Russisch und einem sehr schönen Deutsch hinzu: "Während Russland ein Moor ist, wo das Wasser steht, fließt es in der Ukraine."
Seit dem Euromaidan, in dessen Folge Russland die Krim annektierte und den Donbass in einen Krieg stürzte, ist viel passiert – und dann auch wieder nicht. Als der Showmaster Wolodimir Selenski mit einer überwältigenden Mehrheit der Stimmen im April 2019 zum Präsidenten gewählt wurde, gewann er die Menschen mit dem Versprechen, den Krieg zu beenden. Gelungen ist ihm das nicht. Ein Nato-Beitritt, wie ihn Selenskis Vorgänger in der Verfassung festschreiben ließ, ist derweil nicht unumstritten. Gerade im Süden und Südosten des Landes sind viele, die Selenski wählten, dagegen. Eine stabile Mehrheit hat eine Annäherung nur im Westen.
Die aktuelle Situation analysiert eine Runde von AktivistInnen, die sich auf Einladung der deutschen Rosa-Luxemburg-Stiftung trifft. Selenski lasse sich die Politik zunehmend von den Nationalisten diktieren, die den öffentlichen Diskurs prägten und zu keinen Zugeständnissen gegenüber dem Kreml bereit seien, ist sich die Runde einig. Ein solches wäre etwa die Implementierung der Abkommen von Minsk, die den Weg zum Frieden weisen sollten. Die Umsetzung würde, so befürchten die Anwesenden, die Rechtsextremen auf den Plan rufen. Die Bewegung schwächelte zuletzt zwar, hat auf der Straße aber weiterhin das Gewaltmonopol inne.
Solange die Kriegsgefahr auf dem Tisch ist, bleibt für andere Fragen wenig Raum. So lenkt die permanente Mobilmachung auch vom neoliberalen Umbau des Landes ab, der in den letzten Jahren im Turbogang vorangetrieben wurde: Sparmaßnahmen in der Bildung, Rentenkürzungen, die Privatisierung des Gesundheitswesens. Sorgen machen sie sich hier derzeit auch, weil wegen der erhöhten Spannung Kapital aus dem Land fließt und eine Wirtschaftskrise droht.
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Nik
am 20.02.2022