Seit mehreren Tagen sucht Zafar Hashemi* das Passamt in Kabul auf, um für sich und seine Familie neue Reisedokumente zu beantragen. Das Gedrängel vor dem Gebäude im Südwesten der afghanischen Hauptstadt ist seit Jahren stets dasselbe. Hunderte von Menschen stehen in der Schlange und haben meist nur ein Ziel: raus aus Afghanistan. Viele von ihnen sind eigens aus anderen Provinzen des Landes angereist. Bereits vor der Rückkehr der Taliban war ein neuer Pass teuer. Rund siebzig bis einhundert Dollar zahlte man pro Person. Hinzu kamen die Kosten für das Schmiergeld der Beamten, die andernfalls keinen Finger rührten und die Antragsteller meist Wochen oder gar Monate warten ließen.
Seit Jahren inszenieren sich die Taliban als Feinde der Korruption, für die sie die mittlerweile gestürzte (oder besser gesagt: geflüchtete) Kabuler Regierung und ihre westlichen Verbündeten verantwortlich machten. In vielen Regionen des Landes gewannen sie auch deshalb Zulauf, denn dass das vorherige Regime korrupt war, stand außer Frage. Doch im Kabuler Passamt hat sich seit der Rückkehr der Taliban wenig geändert. Die Korruption hat sogar zugenommen. "Ein Verwandter zahlte vor einigen Tagen 600 Dollar für einen Pass. Andere mussten bis zu 1.000 Dollar hinblättern. Das ist Wucher, vor allem in diesen Zeiten", sagt Hashemi. Der Grund: Die Nachfrage ist groß und korrupte Beamte des vorherigen Regimes sitzen weiterhin in ihren Büros. Der neue Chef des Passamts ist ein Talib, ein Mitglied der Taliban, der vor kurzem aus dem pakistanischen Exil zurückgekehrt ist. "Wir haben mehrere Mitarbeiter aufgrund von Korruptionsvorwürfen entlassen. Wer erwischt wird, hat mit harten Strafen zu rechnen", behauptete er vor kurzem in einem Interview mit einem afghanischen Fernsehsender. Hashemi und andere Afghanen halten ihn für unglaubwürdig. "Der ist entweder dumm und sieht nicht, was vor seiner Nase passiert, oder er verdient selbst an der Korruption mit", meint er.
Doch Korruption ist unter dem wiedergeborenen Taliban-Regime wohl eines der kleineren Probleme. Nach dem Abzug der internationalen Truppen nahmen die Aufständischen, die bereits zuvor zahlreiche Regionen kontrollierten, das ganze Land ein. Letzte Widerstände in den Provinzen Panjshir und Baghlan, zumindest verbal angeführt von Ahmad Massoud, Sohn des berühmten, 2001 von Al-Qaida getöteten Mudschaheddin-Kommandanten Ahmad Shah Massoud, wurden schnell niedergeschlagen. In propagandistischer Manier nahmen die Taliban den Flughafen ein, nachdem die letzten US-Soldaten abgezogen waren, und veranstalteten bald darauf Treffen und Konferenzen in jenen Kabuler Luxushotels, die sie einst mit Selbstmordattentätern heimgesucht hatten.
Der alte Staatsapparat wurde abgeschafft, die weiße Taliban-Flagge gehisst – und zahlreiche bedrohte Gruppen wurden zurückgelassen. Da gibt es etwa Samir*, der einst für die Bundeswehr als Ortskraft tätig war, oder Mustafa*, der der afghanischen Armee diente. Ihre Hilferufe wurden monatelang ignoriert, auch von Deutschland. Als die Taliban in Kabul waren, war es bereits zu spät. Niemand wollte sie evakuieren. Die beiden Männer verlassen kaum noch das Haus und haben Angst vor Racheaktionen. Laut einem Bericht der US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wurden in den letzten Wochen und Monaten Dutzende Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte von den Taliban gejagt, gefoltert und getötet – trotz einer im August verkündeten Generalamnestie. Die Taliban machten abtrünnige Kämpfer für die Vorfälle verantwortlich und beharrten darauf, dass seitens ihrer Führung die Amnestie weiterhin bestehen würde. Doch viele Beobachter halten dies für unglaubwürdig und sprechen von einer Schau-Amnestie, um vor allem internationale Geldgeber zu befriedigen.
Hilfsgelder sind versickert, das Volk hungert
Denn in wirtschaftlicher Hinsicht ist Afghanistan weiterhin abhängiger denn je. Aufgrund der US-Sanktionen, die seit der Rückkehr der Taliban bestehen, befindet sich das Land praktisch im freien Fall. Hinzu kommt, dass die afghanischen Staatsreserven im Ausland in Höhe von rund zehn Milliarden Dollar von Washington eingefroren wurden. In der vergangenen Woche wurde bekannt, dass US-Präsident Joe Biden die Hälfte dieser Gelder an die Opfer der Anschläge des 11. Septembers aufteilen möchte. Der Rest soll der humanitären Hilfe für Afghanistan dienen, allerdings nicht in Taliban-Hände übergeben werden. Der Schritt sorgte nicht nur unter vielen Afghanen für viel Kritik. Experten wie Graeme Smith von der NGO International Crisis Group betonen seit Monaten, dass eine Zusammenarbeit mit den Taliban unausweichlich sei, um den Menschen vor Ort zu helfen.
Die Leidtragenden sind in erster Linie nämlich nicht die Extremisten, sondern Millionen von Afghanen. Sie sind einer humanitären Katastrophe ausgesetzt, die mehr Menschenleben kosten könnte als der Krieg der letzten zwanzig Jahre. Der Laib Brot kostet immer noch gleich viel wie früher. Allerdings ist er um die Hälfte geschrumpft. Grund sind die horrenden Mehlpreise, die in den letzten Wochen in die Höhe geschossen sind. Aufgrund der vorherrschenden Bargeldknappheit können Afghanen im Ausland ihren Verwandten nur begrenzt Geld zukommen lassen. Geldtransferinstitutionen wie Moneygram oder Western Union gehen vor Ort das Bargeld aus, weshalb seit längerem ein wöchentliches Abhebelimit von zweihundert US-Dollar besteht. Für diesen Zustand sind nicht nur die Taliban verantwortlich, sondern auch die geflüchteten Kabuler Eliten sowie jene Länder, die im Land Krieg führten.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist trotz milliardenhoher Hilfsgelder aus dem Ausland kein wirtschaftlich souveräner Staat errichtet worden. Die westliche Afghanistan-Mission war in vielerlei Hinsicht auf eine kurzsichtige Kriegswirtschaft bedacht, die vor allem den Korruptionssumpf innerhalb der politischen Eliten nährte. Nun droht dem Land, ähnlich wie in den 1990er-Jahren, eine Isolation – sofern die internationale Staatengemeinschaft Afghanistan abermals vergisst.
Terror durch die Taliban und den IS
In einer solchen Isolation könnte sich die Schreckensherrschaft der Taliban ausweiten. Anzeichen hierfür gibt es bereits seit ihrer Rückkehr, unter anderem in Form von Zensur und Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit. "Wir zensieren uns bereits selbst", erzählt ein Journalist aus dem Südosten des Landes. Er lebt und arbeitet weiterhin in Afghanistan und will deshalb anonym bleiben. Das Land gehört seit Jahren zu den tödlichsten Ländern für Journalisten. Die Taliban machen keinen Hehl daraus, dass ihnen viele Medien und Journalisten ein Dorn im Auge sind. Während sie internationale MedienmacherInnen hofieren und ihnen Schutz gewähren, sind es vor allem lokale Reporter, die ihnen hilflos ausgesetzt sind. Sie werden von ihnen bedroht, willkürlich verhaftet oder gefoltert. Ähnlich verhält es sich mit Frauenrechtsaktivistinnen. Diese wurden nicht nur mehrmals nach Protesten körperlich angegriffen, sondern auch verschleppt und ermordet. Die Proteste richteten sich gegen die Schließungen von Mädchenschulen (ab der siebten Klasse) und Universitäten, die nach der Rückkehr der Taliban landesweit stattfanden. Mittlerweile ist die Situation von Region zu Region unterschiedlich. Manche Bildungseinrichtungen sind sowohl für Jungen als auch für Mädchen geöffnet, in den Klassen herrscht eine strengere Geschlechtertrennung als zuvor. Studentinnen und Lehrerinnen müssen zwar keine Burka tragen, aber sich strikter verschleiern.
Mit den Entführungen und Morden von Aktivistinnen behaupten die Taliban nichts zu tun zu haben, doch ihre Aussagen sind alles andere als glaubwürdig. Immerhin sind sie mittlerweile der einzige Akteur, der das gesamte Land kontrolliert. Mit dem Fall der letzten afghanischen Regierung und der Flucht des Ex-Präsidenten Ashraf Ghani ist auch der gesamte afghanische Sicherheitsapparat, sprich: Armee, Polizei und Geheimdienst, zusammengebrochen. Lediglich die afghanische Zelle der Terrorgruppe IS bereitet dem neuen Taliban-Regime ernstzunehmende Kopfschmerzen. Sie greift auf jene Mittel zurück, die einst zum Repertoire der Taliban gehörten, sprich: Bombenattentate und Selbstmordanschläge, etwa um religiöse Minderheiten wie die Schiiten auszulöschen. Die Taliban gehören zu den Erzfeinden des IS. Dies ist womöglich auch einer der Gründe, warum nicht nur regionale Staaten mit den neuen, alten Machthabern in Kabul zusammenarbeiten wollen, sondern früher oder später wohl auch westliche Akteure wie die EU oder die USA.
* Namen aus Sicherheitsgründen geändert
1 Kommentar verfügbar
Jo Steiner
am 16.02.2022