"Seit einigen Jahren scheint mir die deutsche Presse jedoch wie verwandelt. Wenn Sie einen Beitrag über Russland zur Hand nehmen, werden Sie oft feststellen, dass er von einem Journalisten geschrieben wurde, der wie ein Ankläger auftritt. Themen, die mit Russland zu tun haben, werden nicht selten mit einer generellen Vorwurfshaltung behandelt." Michail Gorbatschow in seinem Buch "Was jetzt auf dem Spiel steht. Mein Aufruf für Frieden und Freiheit"

Alexei Nawalny (Mitte) bei der Moskau-Ralley im Juni 2013. Foto: wikimedia/Bogomolov.PL, CC BY-SA 3.0, Link
Sie wissen alle ganz schnell Bescheid! Der Außenminister Heiko Maas (SPD) etwa hat nach dem Anschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Alexei Nawalny kaum einen Zweifel daran, dass der russische Staat dahintersteckt: "Die tödliche Chemiewaffe, mit der Nawalny vergiftet wurde, befand sich in der Vergangenheit im Besitz russischer Stellen. Nowitschok ist nur einer sehr kleinen Gruppe von Menschen zugänglich. Und das Gift wurde von staatlichen Stellen bereits für den Anschlag auf den Ex-Agenten Sergej Skripal verwendet." Der CDU-Politiker Norbert Röttgen sagt: "Jetzt sind wir erneut brutal mit der menschenverachtenden Realität des Regimes Putin konfrontiert worden." Für den FDP-Mann Christian Lindner ist Putin-Russland ein "Regime, das Giftmorde inszeniert". Auch die Grünen-Chefin Annalena Baerbock ist sich sicher: "Das ist ein Mordanschlag, aus dem Kreml gesteuert." Und für alle müssen jetzt Sanktionen gegen Russland folgen und das Nord-Stream-2-Projekt beendet werden.
Aber halt! Baerbocks Parteikollege Jürgen Trittin lässt noch einen kleinen Raum für Zweifel. Ja, es sei wahrscheinlich Putin gewesen, sagt er. Vielleicht aber auch andere im "Machtapparat". Aber selbst dann sei Putin schuldig. Das würde nämlich bedeuten, so wird Trittin vom "Spiegel" zitiert, "dass Putin die Lage nicht im Griff habe. Putin habe seinem Land stabile Verhältnisse versprochen. Wenn der russische Präsident die Tat nicht angeordnet habe, habe er dieses Versprechen gebrochen." Nun, Stabilität versprechen auch andere Staaten, etwa der deutsche. Wenn also bei uns etwas Schlimmes passiert, etwa NSU-Morde, müsste man dann die Bundeskanzlerin schuldig sprechen?
Kleiner Exkurs: Die NSU-Analogie hat Wolf Wetzel in einem "Telepolis"-Artikel durchgespielt. In seiner Fiktion fordert Russland Aufklärung, die ungeklärten "Selbstmorde" nach den NSU-Attentaten führen zu dem für Wetzel realen Schluss: "Es gibt mehr als berechtigte Zweifel an dem Aufklärungswillen deutscher Behörden. Es gibt signifikante Beweise dafür, dass Beweismittel manipuliert oder beseitigt werden oder aber für 'nicht zielführend' in den Papierkorb landen."
Keine Unschuldsvermutung für Russland
Zweifel an der Putin-hat-Nawalny-vergiftet-These äußert am 6. September 2020 bei "Anne Will" die Linken-Politikerin Sevim Dağdelen: "Wir können nicht sagen, nur weil es ein Gift der Nowitschok-Gruppe ist, dass es sofort nur die Russen sind. Wir wissen aus Recherchen von 'Süddeutsche Zeitung' und NDR und vielen anderen, dass aus den 90er-Jahren eine Probe in die Hände des Bundesnachrichtendienstes gelangt ist, und damit auch an westliche Geheimdienste. Und dass das Bundesministerium für Verteidigung und der BND sogar die Formel bekommen haben aus dem Labor in Schweden, wo damals diese Probe untersucht worden ist. Das heißt, mindestens Russland, oder sagen wir mal, die Nachfolgerepubliken der Sowjetunion könnten es im Besitz haben, aber auch westliche Geheimdienste. Und insofern halte ich es für hochgradig spekulativ, zu behaupten, X oder Y ist der Täter oder sonst was … Ich bin dafür, dass wir auf Aufklärung dringen. Das muss gemacht werden. Und ich finde es befremdlich, vor einer Aufklärung gleich nach Maßnahmen zu rufen."
Diese Dağdelen-Sätze, die man als Plädoyer für das rechtsstaatliche Prinzip der Unschuldsvermutung verstehen kann, bezeichnet der Anne-Will-Gast Wolfgang Ischinger, Organisator der Münchner Sicherheitskonferenz, als "unsägliche Verschwörungstheorien". Er benutzt also ein Wort, mit dem jede Diskussion verweigert wird. Ischinger ist Mitglied der im Kalten Krieg gegründeten Atlantik-Brücke, zugespitzt gesagt: einem Verein von etwa 500 USA- und Nato-Freunden, von denen gut die Hälfte aus der Wirtschaft kommt. Es tummeln sich darin aber auch Journalisten wie die ZDF-Leute Elmar Theveßen, Theo Koll und Claus Kleber, die ihre Anti-Russland-Haltung gerade besonders betonen.
Die teils engen Verflechtungen von Moderatoren und leitenden Redakteuren zu Nato-affinen Elitenetzwerken hat der Medienwissenschaftler Uwe Krüger 2013 in seiner Dissertation untersucht, die später unter dem Titel "Meinungsmacht" veröffentlicht wurde – und in der Krüger einen hohen Einfluss transatlantischer Organisationen auf insbesondere außenpolitische Fragen feststellte.
Aber zurück zur ARD: Da kann es schon mal passieren, dass bei Anne Will, wie die MDR-Web-Seite berichtet, "gleich mehrere Mitglieder der Atlantik-Brücke in einer TV-Sendung sitzen, um 'kontrovers' über Syrien zu diskutieren. 'Drei Stühle, eine Meinung' titelte daraufhin ein Medienmagazin und im Ergebnis entsteht dann einmal mehr ein Ungleichgewicht bei der Betrachtung der Beziehungen zu Amerika auf der einen und Russland auf der anderen Seite." Wie deutsche Medien auf die Aussagen von Frau Dağdelen reagiert haben, wie bereitwillig sie das Wort "Verschwörungstheorie" aufgriffen, wie geifernd sie die Bundestagsabgeordnete als Pressesprecherin des Kremls denunzierten, hat Albrecht Müller in den "Nachdenkseiten" dokumentiert. Seine Überschrift: "Die traurige Realität: Eine sich selbst gleichschaltende Kampfpresse".
Geheimdienste und reale Verschwörungen
Ja, es ist möglich, dass die russische Regierung oder sogar Putin selbst für den Anschlag auf Nawalny verantwortlich ist. Aber bewiesen ist das nicht. Wer von anderen in dieser Sache Transparenz verlangt, müsste nicht nur Fragen erlauben, sondern sie auch selber stellen. Etwa die, ob Nawalny noch andere Feinde hatte und hat. Zum Beispiel aus der Zeit, als er Migranten als "Kakerlaken" bezeichnete und deren Deportation forderte, oder als er mehrmals an dem von Rechtsextremen dominierten "Russischen Marsch" teilnahm. Gregor Gysi hält auch folgendes für möglich: "Es kann ja auch sein, dass es ein Gegner der Erdgasleitung nach Deutschland war. Oder ein beauftragter Gegner, der wusste: Wenn man einen solchen Mord inszeniert, der dann der Regierung in die Schuhe geschoben wird, führt das zur Verschlechterung der Beziehungen."
Auch das russische Außenministerium hat die Frage aufgeworfen, wer von dem Anschlag profitiere. Für die so genannte Russlandexpertin Inna Hartwich, aktiv für so verschiedene Medien wie die NZZ, die "Stuttgarter Zeitung" oder die taz, ist "schon allein die Frage nach dem Nutzen menschenverachtend". Statt einer Recherche liefert sie moralische Entrüstung. Arbeitet sie mit dem Cui-Bono-Frage-Verbot an der Abschaffung ihres eigenen Berufsstandes? Nein, Frau Hartwich und viele ihrer KollegInnen – um nur drei zu nennen: Christina Hebel im "Spiegel", Alice Bota in der "Zeit", Golineh Atai in der ARD – bekommen weiter viel Raum für Mutmaßungen, Verdächtigungen, Verurteilungen und Sanktionswünsche. Jedenfalls solange es gegen Russland und Putin geht.
12 Kommentare verfügbar
Klaus Zerkowski
am 21.09.2020sind Sie der Meinung, Sie könnten als Journalist in Russland unbehelligt (= ohne Angst zu haben körperlich oder psychisch angegangen zu werden) arbeiten? Würden Sie einem einem jungen russischem Kollegen raten, als investigativer Journalist dort zu arbeiten?
Glauben Sie,…