Derlei kümmerliche Rebellion findet in Deutschland ihre parteipolitische Anerkennung nur von der AfD. Nicht nur bezweifeln zahlreiche Vertreter dieser Partei den Nutzen der Masken, verschiedene Abgeordnete rufen zur Teilnahme an den "Querdenken"-Demonstrationen auf. Damit sind die AfD und ihre Anhänger auf einer Linie mit dem weltweit bekanntesten Corona-Verharmloser, dem US-amerikanischen Präsidenten Trump. Der wiederum führt eine, wie der Philosophieprofessor Jason Stanley von der Universität Yale meint, "faschistische soziale und politische Bewegung" an. Die Vertreter der fundamentalistischen und rassistischen QAnon-Gruppe, die in Berlin mitdemonstrierten und US-amerikanische Flaggen herumschleppten, halten ihn für "einen Engel". Diejenigen, die Trumps Rat befolgten und Putzmittel tranken, um sich vor Corona zu schützen, können sich freilich nicht mehr äußern. Wie der einflussreiche und reaktionäre Experte der Massenpsychologie, Gustav LeBon, verrät, waren "die großen Führer aller Zeiten (…) sehr beschränkt und haben deshalb den größten Einfluss ausgeübt".
Solche Bewegungen, in denen sich ganz normale Leute aus verschiedensten Protestgruppen versammeln, sind in Deutschland nicht neu. Naturschützer – etwa der Bund für Umwelt und Naturschutz – Denkmalschützer, Tierschützer, Reklame-Gegner, Reformpädagogen, Anhänger der Jugendreformbewegung, evangelikale Jugendliche, Sozialisten und Nationalisten – sie alle, ganz normale Leute, versammelten sich, damit ihre partikularen Interessen endlich wahrgenommen werden, in einer wirkmächtigen totalitären Bewegung: in der faschistischen Bewegung der Nationalsozialisten. Ein wesentliches Kennzeichen der faschistischen Ideologien ist, dass sie sich allen Unzufriedenen anbiedert und Versprechungen macht. "So ist der Faschismus in der Praxis immer vorgegangen: Wenn er etwas war, dann opportunistisch", schreibt die Literaturwissenschaftlerin Sarah Churchwell.
Rebellische Gefühle, reaktionäre Ziele
Die Masse derer, die dem Nationalsozialismus hinterherliefen und ihn stark machten, waren keineswegs von Anfang an überzeugte Faschisten, sondern "ganz normale Leute", antisemitisch und vor allem aus der Mittelschicht. Die Sozialpsychologie erklärt derlei Verhalten mit der Evidenz eines inneren Konflikts. Sie befinden sich in einem Widerspruch und sind weder eindeutig progressiv, noch eindeutig konservativ. Der Mittelständler rebelliert in der Krise zwar gegen "das System", wird aber trotzdem reaktionär. Er befindet sich im Widerspruch zwischen rebellierendem Fühlen und reaktionären Zielen. Hannah Arendt meint zu dieser Widersprüchlichkeit Folgendes: Menschen schließen sich einer totalitären Bewegung an, "nicht weil sie dumm sind oder schlecht, sondern weil im allgemeinen Zusammenbruch des Chaos diese Flucht in die Fiktion ihnen immerhin noch ein Minimum von Selbstachtung und Menschenwürde zu garantieren scheint."
Wie sich die meisten Anführer von "Querdenken" systemsprengend geben, tat dies auch der Nationalsozialismus. Vor der Machtübergabe wetterte Hitler gegen die Banken und die großen Warenhäuser. Die nationalsozialistische Bewegung war erfolgreich, weil sie sich auf den Mittelstand, also auf Millionen Beamte, mittlere Kaufleute sowie mittlere und kleinere Bauern stützen konnte. Egal in welchem Land er auftrat, der Faschismus war ursprünglich eine kleinbürgerliche Bewegung ganz normaler Leute. Ohne Hitlers Versprechen, gegen das Großkapital zu kämpfen, wären diese Mittelstandsschichten nie zu den Nationalsozialisten gegangen. Erst später wurde der Nationalsozialismus eindeutig zum imperialistischen Vertreter der großkapitalistischen Wirtschaftsordnung. Die ganz normalen Leute aus dem Mittelstand waren in Bewegung geraten und traten in Gestalt des Faschismus als gesellschaftliche Kraft auf. All diese einander widersprechenden Erscheinungen charakterisieren die Widersprüchlichkeit totalitärer Bewegungen.
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Steiner
am 21.09.2020