Ein neuer Autoritarismus ist in den vergangenen Jahrzehnten als Prozess im Gange, der weltweit zu beobachten ist. Gemeint sind damit nicht nur die bekannten autokratischen Herrscher und ihre Regierungen in Ungarn, Russland, der Türkei und so weiter, sondern insgesamt die Verschiebung hin zur Dominanz der Exekutive mit Schwächung oder sogar Ausschaltung der Parlamente und der parlamentarischen Entscheidungs- und Kontrollbefugnisse.
Insofern ist es gerade in der durch die Corona-Pandemie bedingten Ausnahmesituation geboten, das Regierungshandeln darauf hin zu befragen, ob diese Situation zum weiteren Ausbau autoritärer und totalitärer Herrschaft genutzt wird wie etwa in Ungarn. Oder ob von der Regierung getroffene Maßnahmen, auch wenn sie Freiheiten beschränken, gerechtfertigt sind zur Bekämpfung der Pandemie.
Ein Kriterium zur Beurteilung der Maßnahmen ist auf alle Fälle: Diese müssen klar gekennzeichnet sein für einen bestimmten Zeitraum der unmittelbaren Gefahrenabwehr; sie dürfen aber nicht als von der Exekutive erlassene Gesetze formuliert werden, die über diesen beschränkten Zeitraum hinaus Geltung beanspruchen. Insofern ist die Aufmerksamkeit auf und der Protest der Bürgerschaft gegen Maßnahmen der Exekutive nicht nur berechtigt, sondern geboten.
Zwischen Gesundheitsschutz und Staatsversagen
Problematisch, wenn nicht sogar falsch wird der Protest von Seiten der Bürgerschaft dann, wenn er sich auf "Freiheit" im Sinne von individuellen Abwehrrechten gegen Eingriffe des Staates beruft. In seiner extremsten Form führt dieses immer schon kritisierte Verständnis von Freiheit als einem "negativen" Abwehrrecht zu einer reinen Privatrechtsgesellschaft wie sie Donald Trump und seinen ideologischen Mitstreitern vorschwebt. "Freiheit" – so schreibt der Philosoph Andreas Arndt in seiner hervorragenden Einführung in das Thema – "lässt sich nicht substantiellen Entitäten wie etwa atomisierten Individuen zuschreiben, sondern ist in dem Verhältnis des Individuums zu anderen Individuen und auch zu Anderem begründet." Und das wussten ja auch die klassischen liberalen Ideologen: Die Freiheit des Einzelnen findet ihre Grenze und damit ihre Beschränkung dort, wo die Ausübung individueller Freiheit die Freiheit anderer Individuen gefährdet und verletzt.
Insofern ist es falsch zu meinen, Grundrechte seien nichts anderes als negative Rechte atomisierter Individuen. Um in der liberalen Sprache zu bleiben: Es gibt auch "positive" Grundrechte als Anspruchsrechte des Einzelnen gegenüber staatlichen Institutionen. Ein solches Anspruchsrecht ist das Recht auf Sicherung von "Leib und Leben" des Einzelnen durch staatliche Institutionen. Thomas Hobbes hatte dieses Grundrecht auf Sicherheit in das Zentrum seines Modells eines Gesellschaftsvertrages gestellt, wohl wissend, dass die Gewährleistung der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger durch den Staat auf Kosten von deren Freiheit gehen kann (wohlgemerkt: kann, aber nicht muss!).
Innerhalb der liberalen Tradition besteht jedenfalls ein antinomisches Verhältnis zwischen negativen Abwehrrechten ("Freiheit") und positiven Anspruchsrechten ("Sicherheit"); antinomisch, weil die Beanspruchung des einen Grundrechtstypus den jeweils anderen zumindest einschränkt, wenn eben nicht sogar ausschließt. Und es ist genau diese Antinomie, in der von staatlichen Akteuren jetzt im Kontext der Corona-Pandemie – in genau der gleichen Weise gilt dies für die Klima-Krise und viele andere globale Krisen – Entscheidungen getroffen werden müssen. Im Unterschied zu anderen Regierungen hat unsere Regierung sehr früh ihre Entscheidungen unter Beachtung der Sicherheitsgewährleistung ihrer Bevölkerung getroffen mit der Konsequenz, dass individuelle negative Rechte zeitlich begrenzt eingeschränkt wurden. Und diese von staatlichen Akteuren hingenommene Konsequenz hat dann selbst wiederum zur Konsequenz, dass sich mit Berufung auf negative Rechte Proteste gegen diese Entscheidungen verstärken. Man muss aber auch den umgekehrten Fall durchspielen: Wäre es nicht genauso zu Protesten gekommen, wenn die Regierung nicht in negative, freiheitsgewährende Rechte eingegriffen hätte, also die Erkrankung und das Versterben vieler Bürger und Bürgerinnen in Kauf genommen hätte? "Staatsversagen" wäre dann wohl das Motto der Proteste gewesen.
Auch Expertenherrschaft ist eine Art Autoritarismus
Aber diese – durchaus an eine Zwickmühle erinnernde – Entscheidungssituation, in der staatliche Akteure handeln müssen, ist nur eine, vielleicht die offensichtlichste. Denn wie viele andere Entscheidungen auch erfolgen die Maßnahmen staatlicher Akteure mit Bezug auf wissenschaftliche Empfehlungen. Die Vorschläge der Virologen, Epidemiologen, Intensivmediziner beruhen nicht auf politischen Kriterien, sondern auf den in der jeweiligen Fachwissenschaft gültigen Kriterien. Insofern müssen Politiker und Politikerinnen diese fachwissenschaftlichen Empfehlungen, die dann auch noch je nach Fachwissenschaft durchaus verschieden ausfallen können, übersetzen in den Bereich des Politischen. In einer Situation, in der schnelle Entscheidungen gefordert sind – wie es bei der Corona-Pandemie der Fall ist –, liegt es für politische Akteure nahe, einfach die wissenschaftlichen Empfehlungen direkt und unverändert in politische Maßnahmen umzusetzen. Damit aber werden demokratisch nicht legitimierte Personen, die jeweiligen Wissenschaftlergruppen, zur Exekutive; das heißt, wir haben es in der Form der "Expertenherrschaft" mit einer Form des Autoritarismus zu tun. Margret Thatchers gebetsmühlenartig vorgetragenes Credo "Es gibt keine Alternative" bringt dies genau zum Ausdruck.
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