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Unruhe ist Bürgerpflicht

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Linksliberalismus bei der FDP? Ende der 1960er verfolgte die Partei einige Jahre lang ein Programm, das die Koalition mit Willy Brandts SPD erst ermöglichte. Wesentlichen Anteil daran hatte der vor 90 Jahren geborene Soziologe Ralf Dahrendorf. Viele seiner Reden und Schriften wirken erstaunlich aktuell.

Die Kritik ist gnadenlos: Große Koalitionen, "die sich so stark dünken, weil sie Abgeordnetensitze und nicht politische Ideen zählen, sind die schwächsten Regierungen, die die Bundesrepublik gekannt hat. Große Koalitionen sind Regierungen der Konservierung, nicht der Veränderung eines Zustandes; sie können bestenfalls das erhalten, was ist, nicht aber Neues beginnen. So bestätigen sie die bekannte Erfahrung, dass Mehrheiten desto aktionsunfähiger werden, je größer sie sind. Sie müssen nämlich immerfort versuchen, ihre inneren Gegensätze auf den kleinsten gemeinsamen Nenner auszugleichen." Ganz anders dagegen, und wohl eher den von der Wirklichkeit abgehobenen Blick dokumentierend, sei die Beurteilung ihres Handelns durch die Regierung selbst. "Die Regierung meint, die Richtung stimmt. Vielleicht verrät sie uns einmal, von welcher Richtung sie spricht, kann doch selbst der scharfsinnigste Beobachter in der kläglichen Geschichte der Schwarz-Roten Kartelle in Bund und Land keine Richtung entdecken."

Der mit der großen Koalition einhergehende Stillstand stoße aber zunehmend auf Protest. "Es gibt die unruhigen Studenten, und sie sind nicht eine Handvoll verhetzter oder gar ferngelenkter junger Leute ohne Anhang. Es gibt diejenigen, die mit dem Gedanken spielen, die NPD zu wählen, und sie sind nicht alle unverbesserliche alte Nazis. Beide kann man beschimpfen, zu verniedlichen suchen, auch verbieten – aber die Tatsache räumt man damit nicht aus der Welt, dass beide im Grunde Fragen an uns selber stellen: was haben wir falsch gemacht, so dass auf einmal die Ordnung, in der sich die politische Auseinandersetzung bei uns vollziehen sollte, selbst gefährdet erscheint? Denn die sichtbare Unruhe ist ja nur Teil eines sehr viel größeren Unbehagens." Gefährdet sei "die Offenheit der Gesellschaft, die Freiheitlichkeit der politischen Institutionen. Könnte es also nicht sein, dass wir erst am Anfang einer Epoche faschistischer Gefährdungen stehen?"

Der Verweis auf die "unruhigen Studenten" und die NPD sowie deren Wahlerfolge macht klar, dass mit der großen Koalition die seit 1966 amtierende Regierung unter dem Kanzler Kurt Georg Kiesinger gemeint ist. Aber abgesehen davon trifft die von Ralf Dahrendorf 1968 in seinem Buch "Für eine Erneuerung der Demokratie in der Bundesrepublik" vorgetragene Problembeschreibung einer großen Koalition in fast allen wesentlichen Punkten auch auf die seit 2015 regierende große Koalition unter Kanzlerin Merkel zu. Ersetzen wir etwa "unruhige Studenten" durch "Fridays for Future" und NPD durch AfD – schon befinden wir uns in der Gegenwart. Und die Forderung Dahrendorfs "Wir brauchen wieder Politik in Deutschland …" löste bei dem FDP-Bundesparteitag in Freiburg am 30. Januar 1968 wahre Jubelstürme aus. Warum nicht auch bei uns heute? Aber welche Politik ist gemeint?

In Brandts Regierungserklärung steckte viel FDP

Am 1. Mai 1929 in Hamburg geboren, entwickelte sich Dahrendorf vom "soziologischen Wunderkind" im Verlauf der 1960er Jahre zum Zeitdiagnostiker, der insbesondere mit dem epochemachenden Buch "Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" (1965) nicht nur eine Erneuerung der Demokratie forderte, sondern diese Erneuerung auch durch aktives Eingreifen in das politische Geschehen selbst vorantreiben wollte, indem er 1967 Mitglied der FDP wurde (was er bis 1988 blieb). Warum aber ausgerechnet die FDP und nicht, wie es biographisch nahegelegen hätte, die SPD? Zumal immer noch der streng nationalliberale Erich Mende Vorsitzender der FDP war. Rein rechnerisch wäre schon vom Ergebnis der Bundestagswahl 1965 eine sozial-liberale Koalition möglich gewesen: die 217 Mandate der SPD zusammen mit den 50 Mandaten der FDP hätten eine ausreichende Mehrheit ergeben gegenüber den 251 Mandaten der Union. Aber weder Mende noch Herbert Wehner und Helmut Schmidt wollten das Risiko einer solchen Koalition eingehen.

Nach dem Scheitern der CDU-FDP-Regierung unter Ludwig Erhardt und der dann 1966 unter Kiesinger zustande gekommenen großen Koalition sah sich die FDP vor Herausforderungen gestellt, die eine programmatische Neuorientierung erforderten und die Abkehr vom Nationalliberalismus beinhalteten; eine Neuausrichtung, für die sich Karl Hermann Flach schon Ende der 1950er Jahre erfolglos eingesetzt hatte. Und ein solches neues sozialliberales Programm bot Dahrendorf der FDP an. Und nicht nur ihr. Liest man nämlich die erste Regierungserklärung Willy Brandts von 1969, so muss man mit Verblüffung konstatieren, dass über weite Strecken diese Erklärung Überlegungen Dahrendorfs aufgreift – sei es die Rede vom "mündigen Bürger" oder die programmatische Aussage "Wir wollen mehr Demokratie wagen". Dahrendorf selbst hätte freilich nicht von einem bloßen "Wollen" gesprochen, sondern das "Machen" betont: Wir wollen die Verhältnisse nicht nur demokratischer gestalten, sondern wir gestalten sie demokratischer. Und Dahrendorf erwartete, dass mit einer solchen Programmatik ein Wählerpotential von 20 Prozent erreicht werden könne.

Für die FDP bedeutete diese Neuausrichtung aber zunächst, dass sie viele Mitglieder und Wähler aus dem nationalliberalen Lager an die NPD verlor. Bei der Bundestagswahl 1969 schaffte sie mit 5,8 Prozent gerade mal so den Sprung über die 5-Prozent-Hürde. Erst bei der Bundestagswahl 1972 mit noch 8,4 Prozent zeigte sich der Erfolg der sozialliberalen Programmatik. Aber erleichtert durch den Wechsel Dahrendorfs auf die europäische Ebene und den frühen Tod Karl Hermann Flachs 1973 gaben Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher den sozialliberalen Kurs wieder auf zugunsten einer rein wirtschafts- beziehungsweise neo-liberalen Ausrichtung.

Dass aber auch nach rechts hin Stimmengewinne möglich sind, ist in der FDP und ihrem Umfeld nicht vergessen worden: So versuchte der ehemalige Generalbundesanwalt Alexander von Stahl eine rechtsnationale Umorientierung der FDP durchzusetzen, gab es Versuche der "Haiderisierung" der FDP und schließlich das rechtspopulistische "Projekt 18" von Jürgen Möllemann, also mögliche Stimmengewinne von über 18 Prozent. Dies ließe sich zur These verdichten: Will man die Ursachen für die Erfolge der Grünen einerseits und der AfD andererseits als Parteien analysieren, dann sind die zwei möglichen strategischen Ausrichtungen der FDP, sozial- beziehungsweise links-liberal oder rechts national-liberal zwei Ansatzpunkte. Beide Richtungen finden sich aktuell kaum in der FDP.

Die APO sah er als "hoffnungsvolles Zeichen"

Für Dahrendorf selbst war Partei-Politik eine zwar unverzichtbare, aber doch nur eine Seite der Medaille. Denn um Demokratie glaubwürdig zu machen, bedarf es zweier Sozialfiguren: den modernen Politiker und den mündigen Bürger. Modern ist ein Politiker dann, wenn er im Rahmen einer Programmatik handelt, die zusammen mit einem wissenschaftlichen Beirat formuliert wurde. Und so ist es ja auch im Grundgesetz bestimmt, dass Parteien als Programm-Parteien und nicht in der unsinnigen Formulierung als "Volksparteien" dem Wähler wirkliche Alternativen zur Wahl anbieten. In diesem Sinne ist die Pluralität von Programm-Parteien eine Verdichtung oder Bündelung der Pluralität von Meinungen und Überzeugungen der Bürgerinnen und Bürger eines Gemeinwesens auf der Ebene staatlich-politischer Institutionen.

Insofern haben Programm-Parteien zur unabdingbaren Voraussetzung mündige Bürger und Bürgerinnen; solche, die sich engagieren für die Belange ihres Gemeinwesens, miteinander und auch mit ihren staatlich-politischen Repräsentanten streiten und gegen sie protestieren. Der Philosoph Josef König, bei dem Dahrendorf an der Universität Hamburg über die Idee des Gerechten bei Marx promovierte, schrieb, der Philosoph könne nur Protestant sein, sei also jemand, der in der Öffentlichkeit für seine Überzeugungen eintritt und sie mit Gründen zu verteidigen sucht. In diesem Sinne stritt Dahrendorf dreimal mit Rudi Dutschke in öffentlichen Veranstaltungen, unter anderem am 30. Januar 1968 am Rande des FDP-Parteitags in Freiburg, weil er der Überzeugung war: "Diese außerparlamentarische Opposition ist eines der hoffnungsvollen Zeichen." Aber er diskutierte auch öffentlich mit Adolf von Thadden, dem damaligen Vorsitzenden der NPD. Und es waren argumentgetragene Auseinandersetzungen, kein Talkshow-Geschrei, kein Anpöbeln.

Ralf Dahrendorf jedenfalls lebte das vor, was er als Forderung an jeden Bürger und jede Bürgerin adressierte: "Es ist nötig, in uns selbst und in unserer Welt Unruhe zu erhalten. Unruhe ist in der Tat erste Bürgerpflicht." Insofern ist die Entwicklung eines demokratisch verfassten Gemeinwesens nur möglich, wenn es basiert auf einer Kultur und Wertschätzung des Konflikts, des Streits; dies ist das Thema, das Dahrendorf immer wieder soziologisch umkreist. Nicht eines Streits, in dem es um die Wahrheit der einen oder anderen Meinung geht, sondern eines Streits im Wissen darum, dass jede Meinung, auch wenn noch so gute Gründe für sie sprechen, widerlegt werden kann und revidiert werden muss. "Wahrheit" hat im Bereich der Politik nichts zu suchen; hier trifft sich Dahrendorf mit Hannah Arendt. Politiken der Wahrheit, auch in der Form der Behauptung, Entscheidungen, Beschlüsse seien prinzipiell nicht revidierbar, wie es etwa die Formel "pacta sunt servanda" suggeriert, sind Zerstörungen des Politischen und verhindern Erneuerungen und Weiterentwicklungen der Demokratie. Tritt ein solcher Fall ein, dann verschärft sich laut Dahrendorf zu recht der Konflikt zum Klassenkampf. "Der Klassenkonflikt ist jene Form des Streites, die notwendig wird, wenn Menschen in großer Zahl ihre Interessen durch individuelle Bemühung nicht befriedigen können."

In Großbritannien, wo er von 1974 an mit kurzen Unterbrechungen lebte, musste Dahrendorf zur Zeit der Regierung von Premierministerin Margaret Thatcher vor Ort erfahren, was der Umschlag von Konflikten in Klassenkampf bedeutet und welche sozialen Zerstörungen durch eine Politik, die sich als alternativlos ausgibt, verursacht werden. War er bis dahin überzeugter Liberaler, so warf er nun seit den 1980er Jahren seinen – und auch Thatchers – intellektuellen Lehrern Karl Raimund Popper und insbesondere Friedrich August von Hayek vor, sie verkörperten mit ihren Theorien den Totalitarismus des 21. Jahrhunderts. Der von ihnen vertretene und von Thatcher politisch umgesetzte Neoliberalismus zerstöre alle menschlichen Bindungen und führe in letzter Konsequenz zu einer reinen Privatrechtsgesellschaft.

Und wohl nur mit Entsetzen hätte er zur Kenntnis genommen, dass diese von ihm skizzierte Dystopie mit der Regierung Donald Trump zur Wirklichkeit zu werden droht. In seinen späten Essays verfolgte Dahrendorf daher ein neues, nicht mehr in die Tradition des Liberalismus in allen seinen Spielarten einzuordnendes Projekt, das der Historiker Herfried Münkler völlig richtig als republikanisch kennzeichnet. Diesen republikanischen Dahrendorf gilt es in seiner Aktualität erst zu entdecken.


Info:

Wer mehr wissen will, lese Ralf Dahrendorf: Der moderne soziale Konflikt, erschienen bei der Deutschen Verlagsanstalt Stuttgart, 1992, oder Der Wiederbeginn der Geschichte, C.H. Beck, 2004.


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1 Kommentar verfügbar

  • Kornelia
    am 14.09.2019
    Antworten
    Naja ich denke die wenigen Klees haben mehr zur Demokratisierung beigetragen als die Dichter- und Denker!
    Die FDP war bis zur Halskrause mit Nazis durchdrungen!
    Mit Büchern und Schriften a la Ernst Klee 'was sie taten - was sie wurden' war die Entdeckung in die bestialischen Ermordungen den…
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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 12 Stunden
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