Die Kritik ist gnadenlos: Große Koalitionen, "die sich so stark dünken, weil sie Abgeordnetensitze und nicht politische Ideen zählen, sind die schwächsten Regierungen, die die Bundesrepublik gekannt hat. Große Koalitionen sind Regierungen der Konservierung, nicht der Veränderung eines Zustandes; sie können bestenfalls das erhalten, was ist, nicht aber Neues beginnen. So bestätigen sie die bekannte Erfahrung, dass Mehrheiten desto aktionsunfähiger werden, je größer sie sind. Sie müssen nämlich immerfort versuchen, ihre inneren Gegensätze auf den kleinsten gemeinsamen Nenner auszugleichen." Ganz anders dagegen, und wohl eher den von der Wirklichkeit abgehobenen Blick dokumentierend, sei die Beurteilung ihres Handelns durch die Regierung selbst. "Die Regierung meint, die Richtung stimmt. Vielleicht verrät sie uns einmal, von welcher Richtung sie spricht, kann doch selbst der scharfsinnigste Beobachter in der kläglichen Geschichte der Schwarz-Roten Kartelle in Bund und Land keine Richtung entdecken."
Der mit der großen Koalition einhergehende Stillstand stoße aber zunehmend auf Protest. "Es gibt die unruhigen Studenten, und sie sind nicht eine Handvoll verhetzter oder gar ferngelenkter junger Leute ohne Anhang. Es gibt diejenigen, die mit dem Gedanken spielen, die NPD zu wählen, und sie sind nicht alle unverbesserliche alte Nazis. Beide kann man beschimpfen, zu verniedlichen suchen, auch verbieten – aber die Tatsache räumt man damit nicht aus der Welt, dass beide im Grunde Fragen an uns selber stellen: was haben wir falsch gemacht, so dass auf einmal die Ordnung, in der sich die politische Auseinandersetzung bei uns vollziehen sollte, selbst gefährdet erscheint? Denn die sichtbare Unruhe ist ja nur Teil eines sehr viel größeren Unbehagens." Gefährdet sei "die Offenheit der Gesellschaft, die Freiheitlichkeit der politischen Institutionen. Könnte es also nicht sein, dass wir erst am Anfang einer Epoche faschistischer Gefährdungen stehen?"
Der Verweis auf die "unruhigen Studenten" und die NPD sowie deren Wahlerfolge macht klar, dass mit der großen Koalition die seit 1966 amtierende Regierung unter dem Kanzler Kurt Georg Kiesinger gemeint ist. Aber abgesehen davon trifft die von Ralf Dahrendorf 1968 in seinem Buch "Für eine Erneuerung der Demokratie in der Bundesrepublik" vorgetragene Problembeschreibung einer großen Koalition in fast allen wesentlichen Punkten auch auf die seit 2015 regierende große Koalition unter Kanzlerin Merkel zu. Ersetzen wir etwa "unruhige Studenten" durch "Fridays for Future" und NPD durch AfD – schon befinden wir uns in der Gegenwart. Und die Forderung Dahrendorfs "Wir brauchen wieder Politik in Deutschland …" löste bei dem FDP-Bundesparteitag in Freiburg am 30. Januar 1968 wahre Jubelstürme aus. Warum nicht auch bei uns heute? Aber welche Politik ist gemeint?
In Brandts Regierungserklärung steckte viel FDP
Am 1. Mai 1929 in Hamburg geboren, entwickelte sich Dahrendorf vom "soziologischen Wunderkind" im Verlauf der 1960er Jahre zum Zeitdiagnostiker, der insbesondere mit dem epochemachenden Buch "Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" (1965) nicht nur eine Erneuerung der Demokratie forderte, sondern diese Erneuerung auch durch aktives Eingreifen in das politische Geschehen selbst vorantreiben wollte, indem er 1967 Mitglied der FDP wurde (was er bis 1988 blieb). Warum aber ausgerechnet die FDP und nicht, wie es biographisch nahegelegen hätte, die SPD? Zumal immer noch der streng nationalliberale Erich Mende Vorsitzender der FDP war. Rein rechnerisch wäre schon vom Ergebnis der Bundestagswahl 1965 eine sozial-liberale Koalition möglich gewesen: die 217 Mandate der SPD zusammen mit den 50 Mandaten der FDP hätten eine ausreichende Mehrheit ergeben gegenüber den 251 Mandaten der Union. Aber weder Mende noch Herbert Wehner und Helmut Schmidt wollten das Risiko einer solchen Koalition eingehen.
Nach dem Scheitern der CDU-FDP-Regierung unter Ludwig Erhardt und der dann 1966 unter Kiesinger zustande gekommenen großen Koalition sah sich die FDP vor Herausforderungen gestellt, die eine programmatische Neuorientierung erforderten und die Abkehr vom Nationalliberalismus beinhalteten; eine Neuausrichtung, für die sich Karl Hermann Flach schon Ende der 1950er Jahre erfolglos eingesetzt hatte. Und ein solches neues sozialliberales Programm bot Dahrendorf der FDP an. Und nicht nur ihr. Liest man nämlich die erste Regierungserklärung Willy Brandts von 1969, so muss man mit Verblüffung konstatieren, dass über weite Strecken diese Erklärung Überlegungen Dahrendorfs aufgreift – sei es die Rede vom "mündigen Bürger" oder die programmatische Aussage "Wir wollen mehr Demokratie wagen". Dahrendorf selbst hätte freilich nicht von einem bloßen "Wollen" gesprochen, sondern das "Machen" betont: Wir wollen die Verhältnisse nicht nur demokratischer gestalten, sondern wir gestalten sie demokratischer. Und Dahrendorf erwartete, dass mit einer solchen Programmatik ein Wählerpotential von 20 Prozent erreicht werden könne.
Für die FDP bedeutete diese Neuausrichtung aber zunächst, dass sie viele Mitglieder und Wähler aus dem nationalliberalen Lager an die NPD verlor. Bei der Bundestagswahl 1969 schaffte sie mit 5,8 Prozent gerade mal so den Sprung über die 5-Prozent-Hürde. Erst bei der Bundestagswahl 1972 mit noch 8,4 Prozent zeigte sich der Erfolg der sozialliberalen Programmatik. Aber erleichtert durch den Wechsel Dahrendorfs auf die europäische Ebene und den frühen Tod Karl Hermann Flachs 1973 gaben Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher den sozialliberalen Kurs wieder auf zugunsten einer rein wirtschafts- beziehungsweise neo-liberalen Ausrichtung.
Dass aber auch nach rechts hin Stimmengewinne möglich sind, ist in der FDP und ihrem Umfeld nicht vergessen worden: So versuchte der ehemalige Generalbundesanwalt Alexander von Stahl eine rechtsnationale Umorientierung der FDP durchzusetzen, gab es Versuche der "Haiderisierung" der FDP und schließlich das rechtspopulistische "Projekt 18" von Jürgen Möllemann, also mögliche Stimmengewinne von über 18 Prozent. Dies ließe sich zur These verdichten: Will man die Ursachen für die Erfolge der Grünen einerseits und der AfD andererseits als Parteien analysieren, dann sind die zwei möglichen strategischen Ausrichtungen der FDP, sozial- beziehungsweise links-liberal oder rechts national-liberal zwei Ansatzpunkte. Beide Richtungen finden sich aktuell kaum in der FDP.
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Kornelia
am 14.09.2019Die FDP war bis zur Halskrause mit Nazis durchdrungen!
Mit Büchern und Schriften a la Ernst Klee 'was sie taten - was sie wurden' war die Entdeckung in die bestialischen Ermordungen den…