Am 18. Mai lockert Baden-Württemberg seinen Griff, vor allem in der Gastronomie. Bremens GrundschülerInnen gehen wieder in ihre Klassenzimmer, Berlin hat ein Herz für Hochzeiter, die jetzt mit bis zu 25 Gästen feiern dürfen. Im Saarland öffnen Schwimmbäder, in Sachsen nehmen Theater, Opern, Kinos und Konzertveranstalter den Betrieb auf. Die Liste aller Details hat enorme Überlänge, der Flickenteppich wird immer größer und bunter mit jedem neuen Stichtag.
Trotzdem ist kein anderes Vorgehen vorstellbar. Denn seit dem 25. Februar, als der erste Corona-Kranke im Südwesten registriert wurde, hat sich die Republik epidemiologisch extrem auseinanderentwickelt. Nach den aktuellen Zahlen der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore kommt Mecklenburg-Vorpommern auf 45 Infektionen pro 100.000 Einwohner und Baden-Württemberg auf mehr als 300. In Baden-Baden ist seit über einer Woche kein neuer Coronapatient aufgetaucht, im Alb-Donau-Kreis hingegen wurden von Montag auf Dienstag 16, im Rems-Murr-Kreis sogar 37 neue Fälle verzeichnet.
"Wir sind jetzt in der zweiten Phase", erläutert Ministerpräsident Winfried Kretschmann, "und kommen von breiten zu lokalen Maßnahmen." Und in immer neue Schwierigkeiten, für die der Streit unter Eltern seht: Die einen wollen ihre Kinder so schnell wie möglich wieder in der Schule sehen, die anderen verlangen nach einem Aussetzen des klassischen Unterrichts bis zu den Sommerferien. Beiden Seiten recht getan, ist eine Kunst, die keiner kann.
Genau hinschauen, wer demonstriert
Man sieht das auch an den Demonstrationen, die sich bundesweit wachsenden Zulaufs erfreuen. Und im selben Maße werden die Appelle lauter, doch gefälligst genau hinzusehen, wer da alles gemeinsam auf der Straße oder im Netz rebelliert. Gegen Thomas Kemmerich, den schrägen FDPler und Kurzzeit-Ministerpräsidenten in Thüringen, werden Forderungen nach einem Parteiausschluss erhoben, weil er gemeinsam mit Rechtsradikalen demonstriert hat. Die Landesregierung in Stuttgart erwägt jetzt härtere Auflagen für die Wasen-Veranstaltung, um zu verhindern, dass ein neuer Hot-Spot entsteht. Und will mehr Polizei schicken, damit dieser kontrolliert wird.
Die Gegenreaktion auf diese Reaktion ist leicht auszumalen: Der Widerstand wird noch größer werden. Sogar in der katholischen Kirche. Gebhard Fürst, Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart, geht auf Distanz zu einer radikal-konservativen Gruppe von katholischen Würdenträgern und ihren kruden Corona-Theorien: "Wer die Bemühungen der Politik, Menschenleben vor dem Coronavirus zu schützen, in eine dubiose Weltverschwörung umdeutet, spielt mit dem Feuer." Jetzt tobt das Netz.
Dabei war der Start in die nie dagewesene Herausforderung einer Pandemie-Bekämpfung einigermaßen erfolgversprechend. Alle, die schon immer wussten, dass der Markt allein es nicht richtet, durften auf eine Renaissance des Staates hoffen. Ein Beispiel mit neun Nullen: In nicht einmal zwei Monaten hat das Land Baden-Württemberg rund zwei Milliarden Euro Corona-Soforthilfe gezahlt, an mehr als 200.000 Antragsteller. Zurückgezahlt werden muss dieses Geld nicht.
Aber Geld ist bekanntlich nicht alles: Selbst die Polarisierung in der Gesellschaft schien sich zu verringern. Die Bilder der nächtlichen Militärkonvois, die in Bergamo Särge zur Einäscherung in Nachbargemeinden transportierten mussten, ließen viele Zweifel am Sinn der Einschränkungen in Deutschland verstummen. Vorübergehend. Inzwischen explodieren "krude Verschwörungsmythen", wie Kretschmann klagt, quasi stellvertretend für die ganze PolitikerInnen- und Verwaltungskaste, die für sich in Anspruch nimmt, das Beste auf neuem Gelände zu versuchen. Dort, wo – real wie digital – die ernsthafte gesellschaftliche Auseinandersetzung lebt, wird viel debattiert, warum die Verunsicherung dennoch wächst statt sinkt. Auch jetzt, wo klar ist, dass Deutschland mit weniger als 8000 Toten bisher so viel besser durch die Pandemie gekommen ist als Frankreich, Großbritannien, Spanien und Italien mit jeweils zwischen 27.000 und 33.000 Toten.
Überzogene Ansprüche an Fachleute
Als einer der Gründe sind mangelnde Kenntnisse darüber identifiziert, wie Wissenschaft funktioniert, und überzogene Ansprüche an Fachleute. "Menschen wollen plausible Erklärungen", sagt beispielsweise Olaf Kramer, der Professor für Rhetorik und Wissenskommunikation an der Uni Tübingen, die sich bereits in einer Vorlesungsreihe mit Corona befasst. Jetzt sei Wissenschaft "hautnah" zu erleben, wie sie forscht, indem sie Hypothesen aufstellt, verwirft oder bestätigt. Aber auch Verwirrung erzeugt.
Immer neue Beispiele für das Suchen lieferte der Zahlensalat, der in den vergangenen Wochen oft aufgetischt wurde. Zuerst sollte die Zahl der täglichen Neuerkrankungen möglichst drastisch sinken, dann wurde die Zeitspanne immer wichtiger, in der sie sich verdoppelt, und schließlich kam der Reproduktionsfaktor R ins Spiel, der beständig unter eins liegen muss, damit Corona langsam, aber sicher verendet oder zumindest so schrumpft, dass es nicht mehr ganze Länder stilllegen kann. Das sei ja kein fixer Wert, wird inzwischen längst auf einer der vielen Info-Plattformen erläutert, sondern ein Intervall, das ein Bild der Lage vor zwei Wochen zeichne. Oder wie Kretschmann sagt: "Das ist nicht Adam Riese, sondern ein hochkomplexer Vorgang."
Und noch ein Satz von ihm, der hilfreich sein könnte: "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das steht in Artikel zwei unserer Verfassung. Und logischerweise treten demgegenüber andere Grundrechte aktuell in den Hintergrund. Denn wenn man die Pandemie nicht überlebt, dann ist es auch mit allen anderen verfassungsrechtlich garantierten Freiheitsrechten vorbei."
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