Als im Frühjahr ausgerechnet im Corona Hotspot Baden-Württemberg der Pandemie-Protest erblühte und sich in Stuttgart zigtausende zu "Querdenken"-Demos versammelten, war die Ratlosigkeit groß: Dabei ist es kein Zufall, dass ausgerechnet die Heimat der Kehrwoche zur Hauptstadt der Hygienedemos wurde, einte doch das bunte Protest-Publikum unübersehbar ein Thema: Die Allergie gegen das Impfen. Dass diese Angst besonders im Südwesten auf fruchtbaren Boden fällt, ist kein Wunder, wird sie hier doch seit langem biologisch dynamisch gedüngt. Die Panik vor dem Pieks ist so alt wie die Geschichte des Impfens und die Parallelen zu den Protesten gegen den Pockenschutz vor 150 Jahren frappierend.
Die schrille Impfkritik Ken Jebsens, der bei einer der "Querdenken"-Aufmärsche in Stuttgart als Stargast sprach, gleicht beispielsweise bis in die Wortwahl dem Ahnherrn der deutschen Impfkritik, Hugo Wegener. Der Herausgeber der Zeitschrift "Die Impffrage" warnte vor mehr als 100 Jahren ganz im Stil Jebsens davor, Kindern gegen den Willen der Eltern "Gift in die Blutbahn" zu jagen. Seine populären Bücher sammelten Berichte über angebliche Pocken-Impfopfer mit dem erklärten Ziel, Mütter in Angst und Schrecken zu versetzen. Der Frankfurter Ingenieur war Teil einer breiten, vor allem von Laien getragenen Bewegung, die in Verbänden mit Hunderttausenden Mitgliedern organisiert war. Der Wunsch, die Autonomie über den eigenen Körper gegen die fremde Expertise der Medizin zu verteidigen, ist bis heute ein starkes Motiv der Impfkritik. 1798 war es dem britischen Arzt Edward Jenner erstmals gelungen, Kinder durch die Injektion von Kuhpocken vor der gefährlichen Infektionskrankheit zu schützen. Die medizinische Revolution zu Beginn der Aufklärung stieß trotz ihres Erfolges auf große Skepsis. Obwohl im 19. Jahrhundert noch bis zu einem Fünftel der Kinder an Pocken starben und die Epidemie in Deutschland zu Beginn des Kaiserreiches über 180.000 Menschenleben forderte, gab es anhaltenden Widerstand gegen die Impfpflicht, mit der Reichskanzler Otto von Bismarck dem Virus 1874 zu Leibe rückte. Ähnlich wie in England, wo die Impfgegner bis zu 100.000 Demonstranten versammelten. Dort versuchte man, mit Petitionen Druck auf das Parlament auszuüben und mit internationalen Kongressen die öffentliche Meinung zu beeinflussen.
In Stuttgart trifft sich die Elite der Impfkritik
An diese Tradition wird in Stuttgart bereits seit längerer Zeit wieder angeknüpft. Bereits zwölf Mal traf sich hier die Crème de la Crème der Impfkritik zum Stuttgarter Impfsymposium. Die medizinische Subkultur tagt weitgehend ohne kritische Begleitung der Medien, scheint aber unter dem Radar ihre Wirkung zu entfalten. Nirgendwo in Deutschland ist die Masern-Impfquote niedriger als in Baden-Württemberg. Bei Schuleintritt liegt sie mit 89,7 Prozent deutlich unter der von der WHO empfohlenen Rate von 95 Prozent. Aber auch bei keiner der anderen 13 wichtigsten Infektionskrankheiten wurde 2019 eine Impfquote von 90 Prozent erreicht.
Das impfkritische Bündnis der Kaiserzeit ist der sozialliberalnationalen Allianz der Corona-Proteste zum Verwechseln ähnlich: Wie der als Corona-Rebell gefeierte Wolfgang Wodarg lehnten auch damals einzelne sozialdemokratische Gesundheitspolitiker Impfungen als reine Symptombekämpfung ab. Stattdessen müsse man die eigentlichen Ursachen der Krankheit wie die Armut und die ungesunden Lebensverhältnisse der Stadtbevölkerung in den Blick nehmen. Diese Sozialpolitiker waren schon damals im Bund mit liberalen Impfkritikern, die in der Impfpflicht einen Angriff auf die Freiheit und Mündigkeit der Bürger sahen. Heute ist der liberale Wirtschaftsprofessor Stefan Homburg einer der lautesten Kritiker des Lockdowns.
Schon im 19. Jahrhundert gab es Unterstützung von ganz rechts. Einer der berüchtigtsten Antisemiten und ein wichtiger Vordenker der nationalsozialistischen Rassenlehre, Eugen Dühring, behauptete, das Impfen sei ein Aberglaube, der von jüdischen Ärzten geschürt werde, um sich zu bereichern. Heute unterstellt man dies Bill Gates. Die weitaus stärkste Fraktion der Impfgegner bildetete aber die Lebensreformbewegung, die unter dem Motto "Zurück zur Natur" einen radikalen Bruch mit der Lebensweise der autoritären wilhelminischen Industriegesellschaft propagierte. Die an Verstädterung, Armutsmigration und Massenkultur "erkrankte" Gesellschaft sollte an und mit der Natur geheilt werden. Mit Freikörperkult und Vegetarismus, Gartenstädten und alternativer Medizin. Die modernen Arzneien heißen Luft, Sonne, Wasser und giftfreie Diät, schrieb Heinrich Molenaar, der Präsident des Impfgegner-Bundes.
Als Gift erscheinen dagegen Schmutz und Lärm der Stadt, Rausch- und Genussmittel, Medikamentensucht der Schulmedizin, kurz alles Künstliche der Moderne. Im Impfen verdichteten sich für die Lebensreformer alle Probleme moderner ungesunder Lebensweise. Ein gesunder Körper werde mit Erregern vergiftet, was eine natürliche Immunisierung verhindere und Hygiene beziehungsweise gesunde Lebensweise überflüssig mache.
Doch die Natur taugt nur dann als Richtschnur für ein gesundes und richtiges Leben, wenn sie radikal romantisiert wird. Dass sie in Wahrheit ihre menschlichen Mitbewohner seit jeher mitleidlos mit tödlichen Krankheiten überzieht, müssen die zivilisationsmüden Lebensreformer konsequent ausblenden. Nüchtern betrachtet, würde die Orientierung an natürlichen Lebensweisen zu einem brutalen Überlebenskampf führen. Nix alternativer Streichelzoo. Survival of the fittest.
Nicht umsonst inspirierten die medizinischen Ideen der Lebensreformer bis in die Gegenwart immer wieder nicht nur alternative "grüne" Strömungen, sondern erfreuten sich auch bei den Nationalsozialisten großer Beliebtheit.
129 Kommentare verfügbar
Schultz
am 18.01.2021Laut RKI in 2019 Todesfälle in Zusammenhang mit Masern : 42
Maserninfektion in 2018 laut RKI 543
Wieso dann 130000 Tote durch Masern?
Das ist einfachunglaublich wie in dem Artikel Unwahrheiten veröffentlicht werden.