Gabriela Weinert haut auf den Tisch, die Gläser klirren kurz. Die Wahrheit müsse ans Licht, sagt sie. Energisch, impulsiv erzählt sie. 20 Jahre lang hat sie als Krankenpflegerin auf einer Onkologie-Station gearbeitet. Bis sie 1994 eine Tetanus- und Diphtherie-Auffrischungsimpfung bekam. Etwa drei Wochen später habe die damals 32-Jährige starke Depressionen und ein Schwächegefühl auf einer Armseite vernommen. Symptome einer Multiplen Sklerose, meint sie. "Ich war jahrelang außer Gefecht", erinnert sich Weinert. Seitdem sieht sie im Impfen keinen Sinn mehr. "Ich bin keine Impfgegnerin", betont Weinert, "es geht mir um den Zwang." Die 58-Jährige befürchtet, dass das seit erstem März geltende Masernschutzgesetz nur der Testlauf sei – für eine kommende Corona-Zwangsimpfung. Angst habe die ehemalige Krankenschwester davor keine. Aber vor den dunklen Mächten, der Pharmaindustrie. Die sei "eine kriminelle Sache", so Weinert.
Die Polizei werde die Bevölkerung zum Impfen zwingen, behauptet sie weiter, es werde zudem mehr Suizide geben. Die Mutter zweier Kinder beschäftigt sich schon lange mit dem Thema, es treibt sie um, macht ihr Sorgen, sie schreibt dem örtlichen Gemeinderat, sendet Leserbriefe an Zeitungen. Draußen scheint die Welt noch in Ordnung. In Welzheim hinter Stuttgart lebt sie mit ihrem Mann Johann in einer ruhigen Wohnhaussiedlung. Ein Ort wie aus einem Werbeprospekt. Sauber geschnittene Hecken säumen die Wege. In der Ferne: Kindergeschrei. Familienidylle, ein Hund läuft an der Leine voraus. Normalerweise tuckert hier die "Schwäbische Waldbahn" friedlich durch die Gegend – wäre da nicht Corona. Alles wirkt verschlafen. Doch Weinert kann nicht verstehen, warum die Menschen hier nicht "aufwachen". Sie glaubt an eine Verschwörung. "Wer auch immer dahintersteckt", rätselt die 58-Jährige. Sie wisse es nicht genau. Regierung: wahrscheinlich. Pharmakonzerne: sehr wahrscheinlich.
Aufnahmeprüfung für Journalisten
Orientierung bei ihren Vermutungen bekommt sie von einem Mann, der in Herrenberg wohnt: Hans Tolzin. Er ist gelernter Molkereifachmann und in eigenen Worten "selbsternannter Medizin-Journalist". Tolzin ist der Pop-Star der deutschen Impfgegner-Szene. Er betreibt mehrere Webseiten zum Thema Impfen, gibt einen sogenannten "Impf-Report" heraus, schreibt Bücher und stellt den Sinn des Impfens infrage – ebenso wie die Existenz des neuartigen Coronavirus. In seinem Online-Shop lassen sich Vortragsmitschnitte auf DVD, Aufkleber und "Info-Material" erwerben. Tolzin hat Scientologen-Bekanntschaften, interessiert sich für die "Germanische Neue Medizin", publizierte sechs Bücher im Kopp-Verlag – bekannt dafür, auch Rechtspopulisten und Verschwörungstheoretikern eine Plattform zu bieten. Sein Verständnis von freier Presse lässt zu wünschen übrig: Am Rande einer Demonstration griff er 2018 ein Fernsehteam von "Spiegel TV" körperlich an und bedrohte es. Auf eine Interview-Anfrage seitens Kontext fordert er eine "kleine Aufnahmeprüfung", bevor ein Gespräch stattfinden könne. Damit wolle er sichergehen, ob man denn auch gut recherchieren könne. Seinen bizarren Mikrokosmos möchte er nicht als Ansammlung "komischer Aluhut-Träger" dargestellt haben.
9 Kommentare verfügbar
Hannah Richter
am 04.05.2020sein sollte, was ich persönlich aber in der Argumentation schmerzlich
vermisst habe: nämlich, dass Ärzte und Menschen, die Impfungen kritisch
hinterfragen, nicht kategorisch als Impfgegner abgestempelt…