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Humanitäre Lage in Gaza

15 Euro für ein Kilo Mehl

Humanitäre Lage in Gaza: 15 Euro für ein Kilo Mehl
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Der Krieg in Gaza hat eine der schwersten humanitären Krisen unserer Zeit ausgelöst. Millionen Menschen leben unter katastrophalen Bedingungen. Im Interview schildert Christof Johnen vom Deutschen Roten Kreuz das Ausmaß des Leids und die Schwierigkeiten für die humanitäre Hilfe vor Ort.

Foto: Gero Breloer, DRK

Christof Johnen leitet die internationale Zusammenarbeit beim Deutschen Roten Kreuz. Die Organisation unterstützt sowohl den Palästinensischen Roten Halbmond als auch die Hilfsorganisation Magen David Adom in Israel bei ihrer humanitären Arbeit. In Rafah im Süden des Gazastreifens stellt das DRK medizinisches Personal und Material für das Feldkrankenhaus bereit, das vom IKRK, dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes, betrieben wird.  (fk)

Herr Johnen, das DRK ist seit Jahren in Gaza im Einsatz. Wie geht es den Menschen in Gaza wirklich – jenseits der Statistiken und Schlagzeilen?

Die Lage in Gaza ist seit weit mehr als einem Jahr verheerend. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich tue mich inzwischen schwer damit, noch zu sagen: "Es kann nicht mehr schlimmer werden." Denn es ist fast durchweg immer schlimmer geworden. Woche für Woche, Monat für Monat. Unparteiischen und neutralen Hilfsorganisationen wird es nicht ermöglicht, humanitäre Hilfe und Versorgungsgüter dauerhaft und ausreichend in den Gazastreifen zu bringen – ein gravierender Umstand, der die ohnehin katastrophale Lage der Menschen noch einmal drastisch verschärft. Von den über zwei Millionen Menschen im Gazastreifen leben mehr als eine Million in sogenannten Camps, das muss man sich wirklich bewusst machen. Camp klingt nach Zelten, aber oft sind es nicht mehr als ein paar Plastikplanen. Und viele haben nicht einmal das, sie leben Tag und Nacht unter freiem Himmel. Mehr als eine Million Menschen! Das entspricht der gesamten Bevölkerung von Köln, als würden alle Menschen dort plötzlich obdachlos auf der Straße leben.

Wie bestreiten die Menschen unter diesen Bedingungen ihren Alltag?

Die Versorgungslage ist unvorstellbar schwierig, und das beginnt schon beim Trinkwasser. Es gibt praktisch keinen gesicherten Zugang zu sauberem Wasser. Was die Menschen trinken, ist oft salzhaltig, mit Rückständen aus jahrzehntelanger intensiver Landwirtschaft belastet und nicht selten voller Krankheitserreger. Auch sanitäre Einrichtungen fehlen vielerorts, das bringt erhebliche hygienische Risiken mit sich. Und dann ist da die Ernährungslage. Wenn überhaupt noch Lebensmittel zu bekommen sind, sind sie oft unerschwinglich. Wir hören von Preisen von umgerechnet bis zu 15 Euro für ein Kilo Mehl.

Wie erleben Sie, was das mit den Familien macht?

Viele Erwachsene essen weniger, damit ihre Kinder wenigstens eine Mahlzeit am Tag bekommen. Besonders Kinder leiden massiv unter der Mangelernährung, sie beeinträchtigt Wachstum, Konzentration, geistige und körperliche Entwicklung.

Was müsste sich ändern?

Es muss sofort aufhören, dass die Zivilbevölkerung so unter diesem bewaffneten Konflikt leidet. Für uns ist klar: Es braucht nicht nur Hilfe, sondern auch Sicherheit. Doch in Gaza gibt es keinen einzigen Ort, an dem Zivilist:innen sicher sind, auch nicht die Helfer:innen.

Wie lange kann man unter solchen Bedingungen durchhalten?

Fast jeder Mensch in Gaza ist inzwischen mehrfach vertrieben worden. Die Widerstandskraft schwindet – körperlich, psychisch und finanziell. Anfangs konnten sich viele noch mit Erspartem helfen, aber diese Reserven sind längst aufgebraucht. Zur Versorgung braucht es täglich rund 500 Lkw, diese Zahl wurde seit Oktober 2023 nie erreicht.

Die Versorgung übernimmt jetzt die von Israel und den USA unterstützte neue Hilfsorganisation Gaza Humanitarian Foundation (GHF).

Ja, es gibt Hilfe, aber die entspricht nicht den Grundsätzen humanitärer Hilfe. Humanitäre Hilfe muss allein nach dem Maß der Not geleistet werden. Doch wenn sie nur an wenigen, stark militärisch gesicherten Orten verteilt wird, erreichen wir die Schwächsten nicht: Kinder, Alte, Pflegebedürftige. Das widerspricht dem Grundsatz der Unparteilichkeit – und führt zur Politisierung und Militarisierung von Hilfe. Genau das darf nicht passieren.

Zuletzt gab es auch Tote bei der Verteilung.

Ja, leider. Seit Ende Mai sehen wir in unserem Feldkrankenhaus in Rafah einen massiven Anstieg an Verletzten, oft mehr als 150 Menschen innerhalb kürzester Zeit an einem Tag. Viele von ihnen berichten, dass sie beim Versuch verletzt wurden, eine Verteilstelle für Hilfsgüter zu erreichen. Manche kommen gar nicht mehr lebend im Feldkrankenhaus an. Diese sogenannten Massenanfälle von Verletzten passieren fast immer in zeitlicher Nähe zu angekündigten Hilfsverteilungen. Es zeigt, wie gefährlich der Zugang zu Hilfe geworden ist. Vor allem, wenn sie nicht dort ankommt, wo die Menschen tatsächlich sind.

Wenn schon der Weg zu Hilfsgütern oder Ärzten lebensgefährlich ist, wie gelingt es Ihnen unter diesen Bedingungen überhaupt noch, die Versorgung zu organisieren?

Die medizinische Versorgung ist einer unserer Schwerpunkte, gemeinsam mit dem Palästinensischen Roten Halbmond. Wenn Material in den Gazastreifen gelangt – Medikamente, Verbandsstoffe, Spritzen, Desinfektionsmittel –, dann meist durch humanitäre Lieferungen über den Grenzübergang Kerem Schalom. Jede einzelne Palette muss mit den israelischen Behörden ausgehandelt werden.

Israel hat in der Vergangenheit der UN-Organisation UNRWA vorgeworfen, Verbindungen zur Hamas zu unterhalten. Gibt es ähnliche Bedenken gegenüber dem Palästinensischen Roten Halbmond?

Gewisse Vorbehalte kennen wir. Der Rote Halbmond prüft aber sehr sorgfältig, wen er einsetzt. Zudem verfügt die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung über ein robustes System des Monitorings der Hilfen. Und ehrlich gesagt: Auch beim Deutschen Roten Kreuz kann ich nicht komplett ausschließen, dass unter Tausenden Ehrenamtlichen nicht irgendwo jemand mit extremistischen Ansichten ist. Das gilt überall. Schwierig wird es, wenn in einer chaotischen Konfliktsituation Maßstäbe angelegt werden, die oft nicht einmal in Friedenszeiten realistisch sind, und daraus folgt: Dann helfen wir eben gar nicht mehr. Das darf nicht die Konsequenz sein.

Und wie stellen Sie sicher, dass die Hilfe auch wirklich bei den Menschen ankommt?

Wir haben eine doppelte Struktur: internationale Teams und lokale Teams vor Ort. Gemeinsam beobachten wir die Verteilung, sprechen mit der Bevölkerung und fragen nach: Was wurde verteilt? Wann? Gab es Probleme? Wir dokumentieren das. Uns sind keine wirklichen Auffälligkeiten bekannt. Dass mal ein Teil eines Hilfspakets auf einem Markt auftaucht, ist in jeder Krisensituation, nach jeder Katastrophe übrigens nicht ungewöhnlich. Menschen tauschen, was sie nicht brauchen, gegen das, was ihnen fehlt. Was wir aber beobachten, sind Verzweiflungstaten: Menschen, die aus purer Not Hilfsgüter direkt von den Lkw reißen. Das spricht nicht gegen die Menschen, sondern zeigt, wie schlimm die Lage ist.

Wie können Sie unter diesen Bedingungen das Feldkrankenhaus in Rafah betreiben?

Mit sehr großem Einsatz. Das Krankenhaus wurde mit 60 Betten geplant, wir haben auf 150 aufgestockt. Die zusätzlichen Betten sind Feldbetten, keine Klinikbetten. Wir arbeiten mit internationalen chirurgischen Teams, deren Anzahl wir erhöht haben und die in mehrwöchigen Rotationen kommen. Die Kolleg:innen leben unter sehr einfachen Bedingungen, sind erschöpft, aber hochengagiert.

Wie groß ist die Gefahr für Ihr Team?

Das Krankenhaus liegt in Rafah, nahe Chan Yunis, direkt an der Küste. In der Umgebung gibt es immer wieder Kampfhandlungen. Auch wenn das Krankenhaus selbst nicht direkt Ziel ist, besteht ständig Gefahr durch Querschläger oder Einschläge in unmittelbarer Nähe. Je mehr Personal dort ist, desto größer wird das Risiko, dass meinen Kolleg:innen etwas passiert.

Wie lange können Sie den Einsatz in Rafah überhaupt noch aufrechterhalten?

Ein Feldkrankenhaus ist immer nur eine Notlösung. Eigentlich müssten Menschen in regulären Krankenhäusern versorgt werden. Aber solange wir noch Personal rotieren können und wenigstens das Nötigste an Material durchkommt, machen wir weiter. Wenn das nicht mehr geht, müssten wir den Betrieb einstellen.

Was unterscheidet den Einsatz in Gaza von anderen Krisengebieten?

Die extreme Dichte der Bevölkerung. Der Einsatz von Explosivwaffen in dicht bevölkerten Gebieten trifft zwangsläufig Zivilist:innen. Es gibt keinen sicheren Ort, keinen Schutz für die Bevölkerung. Und das humanitäre Völkerrecht, das klare Regeln vorgibt, wird zunehmend gedehnt. Wenn wir als Weltgemeinschaft zulassen, dass diese Regeln missachtet werden, verlieren wir eine zentrale Schutzlinie in bewaffneten Konflikten. Das hat Folgen weit über Gaza hinaus.

Ist Gaza der härteste Einsatz, den das Rote Kreuz je erlebt hat?

Unsere Teams vor Ort, viele von ihnen waren zuvor in Afghanistan, im Südsudan, in Syrien oder im Irak im Einsatz, sagen übereinstimmend: Gaza übertrifft alles, was sie je erlebt haben. Und das sagen Menschen, die wirklich viel gesehen haben. Niemand von ihnen trifft so eine Aussage leichtfertig.

Israel und Hamas sollen in den vergangenen Tagen einer Waffenruhe grundsätzlich zugestimmt haben. Was würde sich dadurch für Ihre Arbeit ändern?

Eine Waffenruhe ist die absolute Voraussetzung für die Sicherheit der Zivilbevölkerung, aber auch der Helfenden. Hunderte humanitäre Helfer:innen sind bereits ums Leben gekommen. Ohne Schutz können wir nicht unserem Mandat und den daraus erwachsenden Verpflichtungen nachkommen. Und ohne eine dauerhafte Waffenruhe werden auch keine Hilfsgüter in ausreichender Menge nach Gaza gelangen. Wenn der Zugang wieder regelmäßig möglich ist – wie damals während der Waffenruhe mit rund 300 Lkw am Tag –, dann lässt sich die Lage zumindest etwas stabilisieren. Aber klar ist auch: Ohne eine politische Lösung wird humanitäre Hilfe auf Dauer überfordert sein. Sie kann politisches Versagen nicht kompensieren. Dafür war sie nie gedacht.

Selbst wenn der Krieg endet – Ihr Einsatz in Gaza wird damit wohl nicht vorbei sein.

Nein, ganz sicher nicht. Der Wiederaufbau wird Jahre, vielleicht Jahrzehnte dauern. Und das ist genau der Kern der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung: langfristig da zu sein – mit lokalen Strukturen, mit Freiwilligen, die auch dann helfen, wenn es keine Schlagzeilen mehr gibt. Gerade in Gaza wird es auf die palästinensische Zivilgesellschaft ankommen. Organisationen wie der Palästinensische Rote Halbmond, die vor Ort verwurzelt sind, werden die zentrale Rolle spielen müssen. Internationale Unterstützung ist wichtig – aber echte Erneuerung kann nur von innen kommen. Dafür brauchen die Menschen Hoffnung. Und sie brauchen Handlungsspielraum. Beides kann nur durch politischen Willen entstehen.

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