Bis er 13 wurde, durfte Oron Haim nicht alleine mit dem Bus fahren. Zu groß war die Angst der Eltern, dass sich darin islamistische Terroristen in die Luft sprengen könnten. "Ich bin mit ganz viel Frust und Hass und Wut aufgewachsen", erzählt der gebürtige Israeli. Während der Zweiten Intifada, zu Beginn der 2000er-Jahre, häuften sich die Selbstmordattentate, 2002 verübten palästinensische Terrorgruppen 25 Anschläge, bei denen über 200 Zivilist:innen ermordet und etliche verletzt wurden: in Cafés, Einkaufszentren, Universitäten, Wahllokalen, Bussen.
Nachrichten wie diese haben es schwer gemacht, ohne Vorurteile aufzuwachsen. Doch als Haim 15 Jahre alt war, begann er, sich in einer zionistisch-humanistischen Jugendbewegung zu engagieren und traf dort Palästinenser:innen, die gar keine Unterstützung für die Hamas und andere Terrorgruppen guthießen. Sondern sagten: "Der Terror schadet auch uns." Das hat Haim sensibilisiert für etwas, das er heute Medienkrieg nennt. In der Berichterstattung über den israelisch-palästinensischen Konflikt würden viele Informationsportale zu Schwarz-Weiß-Darstellungen mit einseitigen Schuldzuweisungen neigen, die Feindbilder zementierten und so den Hass schürten. Sowohl in Israel als auch in Gaza, wo die Zerstörung Israels im von der Hamas ausgestrahlten Kinderprogramm mitunter als Figurentheater inszeniert wird oder Dreijährige in Hamas-Uniform mit einem Holzgewehr spielen.
Heute ist Haim 29 Jahre alt, lebt seit acht Jahren in Stuttgart und arbeitet beim Verein Kubus. Der Name steht für "Kultur und Begegnung für Menschen in unterschiedlichen Situationen". Zentrales Ziel ist, sich für gleichberechtigte Teilhabe einzusetzen: zum Beispiel mit Projekten wie "Hass ist Handicap", einer Kampagne gegen Mobbing und Ausgrenzung von behinderten Menschen. Das nächste große Projekt des Vereins soll zum jüdisch-muslimischen Dialog beitragen, richtet sich aber explizit auch an die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Haim erläutert: "Wir wollen einen Raum anbieten für interreligiösen, interkulturellen Austausch, wo Menschen mit ganz verschiedenen Hintergründen zusammenkommen und vor allem positive Erlebnisse miteinander schaffen können. Wir wollen Theater, Musik, die Clubszene ansprechen. Wir wollen zeigen, dass jüdische und muslimische Menschen nicht nur nebeneinander existieren können, sondern miteinander schon immer existiert haben und dass sie ganz viel Kultur, Sprache, Musik, Spaß, schöne Erfahrungen gemeinsam haben und teilen können. Und das soll alles in der Öffentlichkeit passieren."
Marginalisierte Gruppen müssen zusammenhalten
Vorbild für den Ort des Austauschs sind die mit Laub behangenen Hütten, die traditionell eine Woche lang zum Laubhüttenfest Sukkot aufgestellt werden, einer jüdischen Feiertagswoche, die fünf Tage nach dem höchsten Feiertag Jom Kippur beginnt (in diesem Jahr fiel Jom Kippur auf den Abend des 11. Oktobers). Ihre "Sukkat Salām" – eine Laubhütte, die bis zu 50 Menschen beherbergen können soll – werde als interkultureller Begegnungsraum immer eine Woche lang an verschiedenen Orten in Stuttgart aufgestellt sein, berichtet Haim, zum Beispiel auf dem Marienplatz im Stuttgarter Süden. Der Projektstart ist für den Frühsommer 2025 geplant. Menschen sollen entdecken können, wo es unabhängig von Identität, Glauben und Herkunft gemeinsame Interessen gibt. Haim: "Es geht uns nicht nur um Israel und Palästina. Auch zigtausende andere Menschen mit Diskriminierungserfahrungen, die mit uns hier in Deutschland leben, sind willkommen. Uns geht es darum, dass wir etwas gegen dieses Schubladendenken in den Köpfen tun und anfangen, tatsächlich als Allianz zu wirken. Gerade jetzt, wo der Faschismus weltweit erstarkt, ist es für marginalisierte Gruppen wichtig, zusammenzuhalten."
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