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Nahost-Konflikt

Überlebensschuld raubt den Schlaf

Nahost-Konflikt: Überlebensschuld raubt den Schlaf
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Sie lebt als Palästinenserin aus Israel in Stuttgart. Sie liebt ihr Volk und wünscht sich ein gemeinsames demokratisches Land für Jüd:innen, Christ:innen, Muslim:innen, Gläubige und Atheist:innen. "Dafür brauchen wir aber Hilfe", sagt Larissa Abdelhadi.

Larissa Abdelhadi ist gerne da, wo die Projekte des Büros, bei dem sie arbeitet, zum Leben erwachen. An diesem Tag war die Architektin in der Stuttgarter Innenstadt auf der Baustelle. "Es läuft", sagt sie. "Im Bestand zu bauen ist ja immer schwieriger als neu zu bauen." Schwierigkeiten, Auseinandersetzungen, die am Bau immer vorkommen, nimmt sie gelassen. "Durch meine Erfahrungen kann ich ganz gut unterscheiden, was ein Scharmützel ist und was ein ernsthafter Konflikt." Die 39-Jährige lächelt.

Lächeln fällt ihr in diesen Wochen manchmal schwer. Abdelhadi ist "Palästinenserin mit israelischem Pass", wie sie sagt. Mit 19 kam sie aus Nazareth nach Deutschland, weil sie eine Perspektive suchte, weil sie Architektur studieren und sich frei fühlen wollte, weil die deutschen Unis einen Spitzenruf hatten und weil das Studium als finanzierbar galt (damals gab es in Baden-Württemberg noch keine Studiengebühren für Nicht-EU-Ausländer:innen). Also machte sie sich nach dem Abitur und einem Jahr Geldverdienen auf den Weg: "Mit einem israelischen Pass kommt man ja ohne Probleme nach Deutschland." Sie suchte sich einen Sprachkurs in Heidelberg, einen Job, ein Zimmer und einen Studienplatz. "Ich konnte zwischen vier Unis auswählen." Abdelhadis dunkle Augen leuchten selbstbewusst. Sie entschied sich für die Uni Stuttgart.

Ihr Studium habe sie genossen, erzählt sie. In Karlsruhe wohnte sie mit einer jüdischen Studentin zusammen. "Eine schöne Zeit." Sie jobbte, kellnerte in Karlsruhe und dann im Jazzclub Bix in Stuttgart. "Meine Ansprüche an Musik sind seitdem sehr hoch." Und wenn arabische junge Männer ihr vorhielten, dass sie Wurst gegessen hat und rauchte, ließ sie sie effektiv abblitzen. "Die esse ich zum Frühstück."

Mittlerweile ist sie verheiratet, hat eine kleine Tochter, ist erfolgreich im Beruf – kurz: vorbildlich integriert. "Ja, bin ich", sagt Abdelhadi. "Deutschland ist meine neue Heimat geworden." Neben dem israelischen Pass hat sie mittlerweile auch den deutschen. Inzwischen werden in den israelischen Ausweisen drei Sternchen beim Feld "Nationalität" eingedruckt, in ihrem Ausweis steht noch: "arabisch". Eine ihrer Augenbrauen geht nach oben, ihr Mund lächelt spöttisch-resigniert. Bei Kontrollen in Israel ist so stets klar, dass sie keine Jüdin ist, nicht dazugehört. "Und wenn ich zu Hause sage, ich bin Israelin, dann guckt dich dein Volk an und sagt: Verräterin. Was ist da meine Identität?"

Nach Hamas-Terror: bleiben oder nach Deutschland?

Das Leben in Israel sei für Palästinenser:innen immer mühsam, mache traurig und wütend, erzählt Abdelhadi. Weil stets mit Schikanen gerechnet werden müsse. Dann lächelt sie plötzlich. Ausgerechnet am 9. Oktober, kurz nach dem Hamas-Überfall, habe sie in Israel erstmals Freundlichkeit von jüdischer Seite erlebt. Auf dem Flughafen in Tel Aviv. "Da waren mehrere ultraorthodoxe Frauen, die nach Hause wollten: in die USA, nach Georgien. Wir saßen da zusammen, wir alle hatten Angst. Es gab eine emotionale, eine schöne Solidarität." Selbst die Frau an der Sicherheitskontrolle war sehr freundlich, was für Abdelhadi ungewohnt war. "Warum muss erst etwas so Schreckliches geschehen, damit wir begreifen, dass wir alle verletzlich sind?"

Anfang Oktober war Abdelhadi für zwei Wochen mit ihrer kleinen Tochter zu ihrer Familie nach Nazareth gereist. Ihre Eltern, ihre Schwestern, ihr Bruder – alle waren da. Abdelhadis dunkle Augen blicken ins Leere. "Ich kann sagen, der 6. Oktober war ein wunderschöner Tag." Gemeinsam seien sie an jenem Freitag am Strand in Haifa gewesen. "Es war wunderbar." Und dann kam der 7. Oktober, das Massaker der Hamas. "Ich war mit meiner Schwester zu Hause mit den Kindern. Als wir die Nachricht hörten, haben wir sie erst nicht verstanden, konnten es nicht glauben." Sie hätten sich gefragt: Wie kann so etwas passieren, wo ist die Armee? "Ein paar Stunden später dachten wir nur noch: Das ist nicht gut, das ist jetzt eine ganz andere Liga." Eine andere Liga als die sonstigen Raketenangriffe der Hamas auf Israel mit darauffolgenden Vergeltungsschlägen Israels. Stets war nach ein paar Tagen wieder Ruhe. Doch dieser Angriff auf mehrere Kubbuzim und ein Musikfestival mit mehr als 1.400 Toten und 240 Entführten, wie Israel vermeldete, würde größere Folgen haben. "Mein Mann rief sehr besorgt an: Bitte kommt sofort nach Hause." Sie sei unsicher gewesen. Die Familie alleine lassen? Das fühlte sich falsch an. Trotz ihrer Zweifel gab sie ihrem Mann am nächsten Tag das "Go", um Flugtickets zu beschaffen. "Vor allem, weil ich meine Tochter dabei hatte."

Als Palästinenserin fühlt sie sich alleingelassen

Sie kam also wieder in Stuttgart an, in Sicherheit. Doch gut geht es ihr nicht. "So viele Opfer und die Angst um meine Familie, auch wenn die nicht in Gaza ist." Sie hat Schuldgefühle. "Survivor guilt", sagt sie. Überlebensschuld. Sie schlafe schlecht, habe mehr weiße Haare bekommen. Mehr als 10.000 zivile Opfer in Gaza, wie von der Hamas gemeldet wird, setzen ihr zu. Zudem hält sie die hiesige Berichterstattung zum Krieg für einseitig. "Natürlich ist das Mitgefühl mit den israelischen Opfern des Hamas-Anschlags richtig. Aber wo bleibt das Mitgefühl mit den palästinensischen Opfern?"

Nichts tun zu können, außer mit der Familie zu telefonieren und Mut zuzusprechen, dazu das Gefühl, nicht offen reden zu können über den Schmerz und das Schicksal ihrer Familie und von Freunden, die Befürchtung, dann als Antisemitin zu gelten – "übrigens bin ich Semitin!" –, das schwächt. Halt in einer politischen Organisation suchen will sie aber auch nicht. Einmal sei sie auf einer Palästina-Demo gewesen, 2021, zum Jahrestag der Nakba, also der Flucht und Vertreibung von mehr als 700.000 Palästinenser:innen vor und während der Staatsgründung Israels 1948. "Das war das erste Mal, dass ich eine Palästina-Flagge hochgehalten habe. Ein großartiges Gefühl – in Israel hätte ich es nicht gedurft."

Dann allerdings habe sie die Demo verlassen, weil "einige junge unaufgeklärte Menschen laut dumme Parolen riefen". Sie mag dieses Religiöse nicht. "Das ist ein Urfehler: Wir führen keinen Religionskampf, das ist ein politischer Kampf." 1948 hätten auch viele Jüd:innen, Christ:innen und Muslim:innen viel gelitten und viel verloren. "Sobald man eine Religion hochhebt, macht man andere nieder."

Dass sie eine atheistische Palästinenserin ist, verdankt sie vor allem ihrem Vater. "Unsere Familie war immer politisch, mein Großvater war einer der Mitbegründer der kommunistischen Partei Israels. Ich war als 14-, 15-Jährige in Peace-Camps, in denen sich israelische Jugendliche trafen." Sie erinnert sich an einen jungen Juden aus Russland, dessen Eltern damals relativ frisch in Israel angekommen waren. "Er sagte zu mir mit starkem Akzent: Das ist mein Land. Da wurde ich sauer. Ich spreche besser hebräisch als du!, sagte ich." Hitzig sei die Diskussion gewesen. Doch am Ende des Camps habe sie ihm japanische Schriftzeichen auf den Arm gemalt. "Weil wir uns dann mochten." Darum geht es ihr. Immer. "Wir müssen miteinander reden, uns kennenlernen, dann können wir einander verstehen."

Auch wegen dieser Überzeugung hat sie sich bereiterklärt, mit Kontext zu reden. "Die Hälfte meiner Bekannten hat gesagt: lass es. Das bringt nur Ärger, wenn du dich als Palästinenserin äußerst." Außerdem könnte sie Probleme an der israelischen Grenze bekommen, wenn sie irgendwann ihre Familie wieder besuchen wolle. "Die Israelis kriegen alles mit, legen jedes Wort auf die Goldwaage." Die andere Hälfte ihrer Bekannten aber sagte: "Rede mit der Zeitung. Wir müssen sichtbar werden."

Stuttgart ist das Thema Gaza zu schwierig

Seit dem Hamas-Überfall und dem Gegenschlag Israels in Gaza hat sie den Eindruck, dass die Geschichte der Palästinenser:innen vor allem in Deutschland nicht in ihrer Gänze gesehen wird. "Wer mir jetzt sagt, 'Die Hamas hat angefangen', dem sage ich: Du hast die erste Staffel nicht gesehen." Um Kriege zu verstehen, müsse die Geschichte angeschaut werden. "Wir sind vom Aussterben bedroht", befürchtet Abdelhadi. Dass es in Deutschland nun an Schulen Verbote gibt, das Palästinensertuch zu tragen, entsetzt sie. "Das hätte ich nie gedacht. Mir sagen Leute, es sei mutig, dass ich es trage. Das kann doch nicht wahr sein!" Christ:innen tragen ihr Kreuz – "Damit bin ich an meiner katholischen Nonnenschule aufgewachsen." – Jüdinnen und Juden ihren Davidsstern – alles in Ordnung. "Wir verleugnen den Holocaust nicht", unterstreicht Abdelhadi, will aber nicht, dass die Erinnerung an den Holocaust dazu führt, das Leid anderer zu ignorieren.

Dahinter steht wohl auch die Befürchtung, dass die Politik sich – wie schon seit vielen Jahren – auch in Zukunft nicht um die Palästinafrage kümmert. Das wäre aus Abdelhadis Sicht fatal, denn sie ist überzeugt: "Wir sind unfähig, unsere Probleme selbst in den Griff zu bekommen. Wir brauchen Hilfe von außen. Von der UNO, von der EU." Das Ziel müsse ein Land sein, in dem Jüd:innen und Palästinenser:innen gemeinsam leben. "Die allermeisten Menschen bei uns wollen doch Frieden." Und zwar in einem demokratischen Land, keinem religiösen. Sie ist überzeugt: "Die Zweistaaten-Lösung ist eine Lüge und lächerlich – auf der einen Seite eine rechtsradikale Regierung, auf der anderen eine zutiefst korrupte. Mit denen geht das nicht."

Vor ein paar Tagen stand sie auf dem Marktplatz und schaute hinüber aufs Rathaus. "Ich sah die israelische Flagge dort wehen und dachte: Wo ist das Zeichen für die palästinensischen Opfer?" Also schickte sie eine gelbe Karte an OB Nopper, ein Angebot auf der Internetseite der Stadt. "Als Stuttgarterin und als Palästinenserin bin ich sehr enttäuscht über den einseitigen Beistand der Stadt Stuttgart im Palästina-Israel-Krieg", schrieb sie. Erklärte, dass "Nie wieder" auch für sie und ihre Community, die in Stuttgart eine neue Heimat gefunden habe, gelte und schlug vor, beispielsweise auf dem Amtsblatt ein Herz für die palästinensischen Opfer zu bringen. "Es ist nie zu spät."

Nopper-Sprecherin Susanne Kaufmann antwortete: Der OB habe gesagt, man trauere um alle unschuldigen Opfer auf israelischer und palästinensischer Seite und man wolle das blau-gelbe Herz im Amtsblatt für die Ukraine beibehalten. Immerhin habe man intern überlegt, so Kaufmann, "ob wir auf der Titelseite des Amtsblatts in irgendeiner Weise auf die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas reagieren sollten. Das Thema ist sehr kompliziert, weshalb wir uns dagegen entschieden haben." Larissa Abdelhadi zuckt mit den Schultern. "Thema verfehlt, würde ich sagen."

Sie ist froh, dass sie seit ein, zwei Jahren einen neuen Freundinnenkreis hat. Etwa ein Dutzend arabischsprechender Frauen habe sich gefunden. Die Muttersprache, gemeinsame kulturelle Erfahrungen machten manches leichter. Gerade jetzt. "Diese Gefühle, die Angst, die Trauer, kann niemand nachempfinden, der nicht betroffen ist", glaubt Abdelhadi. Ihren deutschen Freund:innen und Bekannten mag sie nicht andauernd mit ihren düsteren Gefühlen kommen. "Das passt nicht in die heile Stuttgart-Bubble." Mit ihrem neuen Frauenkreis will sie aktiv werden, Veranstaltungen organisieren, Diskussionen anstoßen, vor allem im kulturellen Bereich. Was soll das bringen? Jetzt lacht Abdelhadi, wirkt befreit. "Ins Gespräch kommen natürlich."


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6 Kommentare verfügbar

  • Dieter Rebstock
    am 30.11.2023
    Antworten
    "Sie hätten sich gefragt: Wie kann so etwas passieren, wo ist die Armee?" DAS dürfen sich Israelis fragen, nicht aber Israelis, die sich als Araber/Palästinenser fühlen, sonst machen sie wieder einmal die Opfer zu Tätern. Ein paar Stichworte, die auch die Redaktion interessieren dürften:
    Vor dem…
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