Während ich diese Zeilen schreibe, telefoniere ich alle paar Stunden mit Menschen vor Ort, insbesondere mit einer Person, die mir sehr nahesteht. Ein entferntes Familienmitglied von ihr, David aus dem Kibbuz Be'eri, ist unter den Vermissten. Nach Tagen des Wartens wurden Körperteile, die sich als zu David zugehörend erwiesen, aufgefunden. Möge er in Frieden ruhen.
So gut wie jede Person in Israel ist auf die eine oder andere Weise, über eine oder mehrere Ecken von diesem Massaker betroffen. Jedes Menschenleben zählt. Aber dass unter den Getöteten und Entführten auch langjährige Aktivist:innen gegen Israels Besatzungspolitik sind, ist ein zynischer Spiegel des moralischen Abgrunds dieser Katastrophe. Etwa die Aktivistin Vivian Silver von "Road to Recovery", einer Organisation, die in den letzten Jahren immer wieder mithalf, Patient:innen in Not aus Gaza zur Behandlung nach Israel zu transportieren; Shahar Tzemach von "Breaking the Silence", der Führungen in Hebron durchführte, um Menschen über die Realität der palästinensischen Bantustans – bestimmte Gebiete unter israelischer Besatzung – im Westjordanland aufzuklären; oder Hayim Katsman, der noch im Juni dieses Jahres für die Tageszeitung "Haaretz" eine bestechende Analyse über die Hegemonie-Bestrebungen der israelischen Rechten schrieb.
Eine linke Bestandsprobe
Das Massaker, das die Hamas verübte, ist ein schwer in Worte zu fassendes Kriegsverbrechen. Die Ermordung von Zivilist:innen, die Tötung und Entführung von Kindern, die psychische Folter ganzer Freundeskreise und Familien, die nicht wissen, ob Seelenverwandte oder Angehörige tot sind, wird über Jahrzehnte nachwirken und tiefe Spuren hinterlassen. Schmerz wird zu Trauma wird zu Angst werden – zumal unter dem Einfluss rechter Demagogie, die das Trauma schon jetzt für eine Politik der Abschottung und für bedingungslosen Militarismus instrumentalisiert. Die Angst nicht zu Hass werden zu lassen und fragile Bündnisse nicht an ihr zerbrechen zu lassen, ist eine vorhersehbare Herausforderung, die linke Gruppen und ganze Gesellschaften auf die Probe stellen wird. Dieser Herausforderung gebührt Solidarität.
Was auch klar ist: Eine Linke, die versucht, ein Massaker wie das von der Hamas begangene in ein kurzatmiges Diskursparadigma antikolonialen Widerstands zu zwängen, ist keine. Nicht, weil Palästinenser:innen in Gaza oder im Westjordanland nicht jahrzehntelanger kolonialer Gewalt ausgesetzt wären. Nicht, weil ein Aufbegehren gegen diese von westlichen Staaten inklusive Deutschland teils bis ins Groteske normalisierte Gewalt nicht erwartbar, auch nachvollziehbar wäre. Sondern weil allein der Gedanke, dass dies das Verletzen, Entführen und Massakrieren von Zivilist:innen – noch dazu innerhalb Israels anerkannter Grenzen von 1948 – quasi aufwiegen würde, jedem humanistischen Grundsatz widerspricht.
Linkes Denken kann sich in diesen Tagen nicht erlauben, diese Grundsätze aufzugeben. Man muss die Anerkennung der strukturellen Asymmetrie zwischen einer der stärksten Militärmächte der Welt (Israel) und einer fragmentierten und über Jahrzehnte strukturell entrechteten Gesellschaft (Palästina), die diesem Konflikt eingeschrieben ist, nicht aufgeben, um an humanistischen Grundsätzen festzuhalten. Ich schreibe auch das als Reaktion auf verbalen Radikalismus aufseiten einiger Linker, der besonders auf Social Media spürbar wurde: "Was habt ihr denn gedacht, was Dekolonisierung bedeutet? Vibes? Essays? Loser", lautete etwa eines dieser Statements. Womöglich war das volle Ausmaß der Katastrophe zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch nicht ganz klar. Besser macht es das nicht.
Die inhärente Logik des "Kollateralschadens", die in derartigen Aussagen durchschimmert, erinnert nicht zufällig an die bekannte Rechtfertigungslogik der israelischen Rechten, die unter dem Stichwort vermeintlicher "Selbstverteidigung" seit knapp 15 Jahren Tausende zivile, palästinensische Opfer durch Luftangriffe in Gaza immer wieder willentlich in Kauf nimmt. Die Früchte jener Entmenschlichung sehen wir derzeit in Gaza. Ja, es gibt einen Unterschied zwischen einem gezielten Massaker an Zivilist:innen und unnachgiebigem Bombenhagel auf ein dicht besiedeltes Gebiet ohne Fluchtmöglichkeit, der zwangsläufig zivile Opfer fordert. Der Unterschied weist über die bloße zeitliche Abfolge hinaus. Doch zur Wahrheit gehört auch, dass es mit jedem weiteren grauenhaften Bericht aus Gaza in diesen Stunden schwieriger wird, beides zu benennen: den Unterschied selbst sowie seine Indienstnahme für die Legitimation von Kriegsverbrechen.
Kontext ist nicht Verharmlosung
Die Versuche der Rechten in Israel, den historischen und politischen Kontext des Massakers im Süden Israels auszuklammern – Versuche, die von der deutschen Mehrheitsgesellschaft weitestgehend unkritisch übernommen werden – wirken bizarr reduktionistisch. Kontext ist nicht Rechtfertigung. Kontext ist nicht Verharmlosung. Kontext ist die Grundlage jeder ernstzunehmenden moralisch-politischen Bewertung.
In diesem Fall lautet der Kontext: Zivilist:innen in Gaza werden infolge der Blockade seit 16 Jahren überlebensnotwendige Güter vorenthalten. Dem Großteil der Bevölkerung wird nicht erlaubt, das Gebiet, in dem sie leben, zu verlassen. Die meisten von ihnen haben ihr ganzes Leben in einer winzigen, umzäunten Enklave verbracht. Medizinische Versorgung ist knapp, Zugang zu Lebensmitteln, Treibstoff und Elektrizität hängt buchstäblich von Israels Gutdünken ab. Über 65 Prozent der in Gaza lebenden Menschen sind im Kinder- und Jugendalter. Die wenigsten von ihnen haben jemals eine politische Vertretung gewählt.
Die Vereinten Nationen, UNWRA, diverse Menschenrechtsorganisationen und Rechtsexpert:innen haben seit vielen Jahren immer wieder auf die Illegalität der Blockade und effektiven Besatzung Gazas hingewiesen. Dass so viele Menschen dort leben, liegt historisch betrachtet auch daran, dass israelische Streitkräfte infolge des Unabhängigkeitskrieges von 1948 und der israelischen Staatsgründung unzählige palästinensische Dörfer brutal verwüsteten, viele dort lebende Menschen töteten und zahlreiche weitere vertrieben. Diese Episode ist in palästinensischen Communities und unter Historiker:innen als Nakba bekannt.
Wenige Stunden nach dem Massaker der Hamas twitterte ein Abgeordneter von Netanjahus Likud-Partei im israelischen Parlament als Reaktion: "Gerade jetzt, ein Ziel: Nakba! Eine Nakba, die die Nakba von '48 in den Schatten stellt." Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant kündigte Völkerrechtsbrüche an, die Israel freimütig umsetzte: "Wir haben eine vollständige Blockade über Gaza verhängt. Kein Wasser, keine Lebensmittel, kein Gas, alles ist zu." Am Dienstag gab der Armeesprecher Daniel Hagari bekannt, dass "Hunderte von Tonnen Bomben" auf den Gazastreifen abgeworfen worden seien, und konstatierte, der Schwerpunkt liege "auf Beschädigung, nicht auf Genauigkeit". Das erschütternde Ergebnis dieser Taktik lässt sich dieser Tage beobachten.
Gazas humanitäre Katastrophe
Nicht erst seit zwei Wochen, aber heute mehr denn je steht Gaza am Rande einer humanitären Katastrophe. Israel mobilisiert für eine Bodenoffensive. Ein Video der "New York Times" zeigte Überreste zertrümmerter Moscheen; Human Rights Watch berichtete vom Einsatz geächteter Phosphorbomben; Bewohner:innen in Gaza berichten von Angriffen auf Kirchen und Schulen. Die Zahl der zivilen Opfer hat mit annähernd 5.000 den bislang tödlichsten Angriff der letzten Jahre von 2014 längst überschritten. Diese Luftangriffe, die nach Ansicht israelischer Expert:innen wie dem Menschenrechtsanwalt Michael Sfard ein Kriegsverbrechen Israels darstellen, nicht klar zu verurteilen, ist eine moralische Bankrotterklärung. Die deutsche Regierung tut, indem sie sich jetzt bedingungslos hinter die rechteste und expansionistischste Regierung der israelischen Geschichte stellt – selbst gegen Widerstände im EU-Parlament – das Gegenteil.
Viele Beobachter:innen fürchten, dass sich hier eine Kollektivstrafe von historischem Ausmaß abzeichnet, die die Palästinenser:innen als Ganze trifft. Zahlreiche Forscher:innen wie der israelische Historiker Raz Segal sprechen bereits von einem drohenden Genozid. Angesichts des israelischen Regierungskabinetts können derartige Warnungen kaum hyperbolisch wirken. Israels Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, ist ein offen anti-arabischer Rassist mit Sympathien für kahanistische Terroristen (Kahanismus ist eine rechtsextreme Strömung des religiösen Zionismus). Er forderte die Massenausweisung sogenannter "illoyaler" Palästinenser:innen mit israelischem Pass, also auch innerhalb Israels Grenzen. Israels Finanzminister, der Hardliner Bezalel Smotrich, rief indirekt dazu auf, ganze palästinensische Dörfer auszulöschen. Diese Regierung bedürfte keiner Provokation, ihre Verachtung für palästinensisches Leben in die Tat umzusetzen.
Der Massenmord der Hamas ist somit auch eine Art invertierte Handreichung an rechte Demagogen. Die Hamas lieferte Netanjahu und seinem Kabinett den nötigen Brandbeschleuniger, eine expansionistische Agenda noch zu erweitern. Dazu zählt das im Koalitionspapier dieser Regierung 2022 explizit benannte Ziel einer Annexion des palästinensischen Westjordanlands. Indem Smotrich alle Behörden der zivilen Administration übertragen wurden, wurde dieser Prozess de jure bereits eingeleitet. Dazu zählt auch die de facto Politik der Apartheid, die im Westjordanland seit Jahrzehnten Realität ist. Sie spiegelt sich unter anderem in den nach ethnischen Kriterien differenzierten Rechtssystemen für israelische Siedler:innen und Palästinenser:innen unter israelischer Souveränität.
Eine historische Zäsur
Das Hamas-Massaker ist ein historischer Einschnitt, der auch dazu geführt hat, den über 40 Wochen andauernden Protest gegen den israelischen Justizumbau schlagartig zu beenden. Die Proteste bewogen Reservisten der israelischen Armee und junge Israelis, Dienstverweigerung anzukündigen beziehungsweise Einberufungsbefehle zu verbrennen. In linken und liberalen Kreisen in Israel wuchs ein immer klarsichtigeres Verständnis für die Verschränkung zwischen Israels Besatzungs- und Siedlungsprojekt sowie dem Justizputsch. Wenngleich die Proteste in ihrer bisherigen Form wohl zu Ende sind, hat sich der Hass auf Netanjahu nicht aufgelöst. Allein dass Israels Vergeltungsschlag auf Gaza eine größere Priorität eingeräumt wurde als dem Versuch, einen Deal über die Rückführung israelischer Geiseln zu erreichen, ließ Abertausende Israelis verzweifelt zurück.
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Jan Albers
am 04.11.2023