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Israel und Palästina

Getrennte Welten

Israel und Palästina: Getrennte Welten
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Sind die Haltungen zu Israel und Palästina so polarisiert, dass nichts Gemeinsames mehr möglich scheint? Dass die Gräben durch den 7. Oktober noch tiefer geworden sind, wurde unserem Autor auf zwei Veranstaltungen schmerzlich klar.

Ich war am Mittwoch, 8. November im Haus der Katholischen Kirche zum Vortrag von Michael Lüders, Publizist und langjähriger Nahost-Korrespondent der Wochenzeitung "Die Zeit". Der Raum war überfüllt von, so meine Vermutung, überwiegend Palästinenser:innen und eher links-tickenden Menschen. Lüders sprach über "Deutsche Außenpolitik in Zeiten von Krieg und Frieden", ein Drittel der Zeit befasste er sich mit der Situation in Israel und Palästina, in der anschließenden Diskussion ging es ausschließlich um dieses Thema. Das Wort "Reichspogromnacht" kam nicht vor, einen Tag vor dem 9. November – und ich habe auch so gut wie nichts gehört vom Leid der Jüdinnen und Juden durch den Holocaust, die weltweiten Vertreibungen, die Opferzahlen durch Selbstmordanschläge und die Raketenangriffe der Hamas, obwohl der Referent immer wieder betont hat, wie wichtig die Kenntnis der Geschichte sei. Es wurde auch nicht unterschieden zwischen der Hamas sowie anderen Gewaltgruppen und den Palästinenser:innen, die sich nach Frieden sehnen und Gewalt ablehnen. Die Terrorattacken der Hamas wurden wie erwartet verurteilt, aber kein Wort zu der Dimension und Zäsur dieser Gewalttat. Charlotte Wiedemann zitiert in der aktuellen Ausgabe von "Le Monde diplomatique" dazu Achille Mbembe, der formuliert: "Vielleicht war dies das Kalkül der Hamas: Alle Perspektiven friedlicher Koexistenz zu vernichten – das heißt die Möglichkeit, sich wechselseitig als verwundbar anzuerkennen und daraus etwas Gemeinsames zu konstruieren." Gehört habe ich auch nicht, dass es in den letzten Jahrzehnten immer wieder Schritte zum Frieden gab, die von den Fundamentalisten auf beiden Seiten torpediert wurden. Es bleibt festzuhalten: Die Hamas will Israel auslöschen. Mit ihr kann es kein Gemeinsames geben und eine Zweistaatenlösung schon gar nicht.

Ich war am Donnerstag, 9. November in der Stuttgarter Synagoge beim Gedenken aus Anlass des 85. Jahrestages der Reichspogromnacht. Auch dieser Raum war überfüllt. Ich habe fast niemanden gekannt, außer den Mitgliedern der baden-württembergischen Landesregierung, die sehr stark vertreten war. An der Spitze Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Bei dieser Veranstaltung, bei der natürlich der 7. Oktober eine große Rolle spielte, habe ich das Wort Palästinenser nicht gehört. Dafür öfter das Wort Hamas. Ich habe nichts gehört vom Leid der Palästinenser:innen über Jahrzehnte hinweg infolge Vertreibung, Diskriminierung, Besatzung, Siedlungsbau, Schikanen an den Grenzen usw. Die Schüler:innen einer Schule, die Israel besucht hatten und darüber berichteten, sahen all dies offenbar nicht. Zumindest sagten sie es nicht, als wenn es das Leid der Palästinenser:innen nicht gäbe. Und auch von Kretschmann kein Wort zu den leidenden Palästinensern in Gaza. Viele wollen das Leid der Anderen einfach nicht sehen – oder wollen und dürfen es nicht laut sagen in diesen kalten Zeiten, die oftmals von Schwarz-Weiß-Denken geprägt sind.

Bei beiden Versammlungen wurde der Angriff der Hamas verurteilt. Am 8. November, so mein Eindruck, war das "aber" im Zentrum und der Hamas-Angriff wurde vor allem als Folge der Politik Israels begriffen. Für so gut wie alle Fragesteller:innen während der Diskussion war klar, dass Israel verantwortlich ist für die kriegerischen Auseinandersetzungen mit den fürchterlichen Folgen für die Zivilbevölkerung in Gaza. Dass der bestialische Angriff der Hamas Auslöser der jetzigen Zerstörungsorgien mit Tausenden Toten war, wurde eher am Rande erwähnt.

Foto: Jens Volle

Gerd Rathgeb, 79, gehörte als Betriebsrat bei Daimler zusammen mit Willi Hoss der legendären "Plakat-Gruppe" an, die linke Betriebsarbeit leistete. Er ist Mitbegründer von POEMA Deutschland e.V., eines sozialen Projekts, das sich der Armutsbekämpfung und dem Schutz des Regenwaldes in Amazonien verschrieben hat.  (os)

Am 9. November in der Synagoge fiel kein Wort über die Besatzungspolitik Israels, die rechtsradikale aktuelle Regierung und die Tatsache, dass es rassistische Siedler und Siedlerinnen gibt, die ungestraft Palästinenser:innen umbringen können. Bei der Veranstaltung ging es natürlich in erster Linie um die Pogromnacht vor 85 Jahren und um die aktuelle Bedrohungslage der Jüdinnen und Juden in Deutschland. Doch es war für mich bedrückend, nicht ein Wort über die Schattenseiten israelischer Politik zu hören. Und doch bleibt sie Realität, auch wenn sie ignoriert wird. Dieses Schweigen allerdings lässt wenig Hoffnung auf ein Aufeinanderzugehen.

Abschließend: Mir wurde durch die zwei Veranstaltungen schmerzlich klar, wie unendlich tief die Gräben sind und wie sie durch den 7. Oktober noch viel tiefer wurden. Es waren zwei Veranstaltungen ohne Bezug zueinander. Getrennt und weit auseinander. Weniger räumlich als in den Hirnen und Herzen. Zwei Welten in einer Stadt, und wenn es nicht einzelne Menschen und Gruppen gäbe, die dieses Getrenntsein aufheben, miteinander ins Gespräch kommen und sich als Menschen begegnen, dann würde es noch dunkler und sprachloser in diesen Zeiten hasserfüllter Reden und fehlender Empathie hierzulande genauso wie in Israel, Gaza und Westjordanland.

Nochmal Charlotte Wiedemann in "Le Monde diplomatique": "Die Politik der Feindschaft ist ein rechtes, rechtsextremes Konzept, und wer das nicht erkennt, erliegt ihr. In einer globalen Linken, die über kaum ein anderes attraktives Projekt von Emanzipation und Befreiung verfügt, ist die Palästina-Solidarität zu einem für alle passenden politischen Bedürfnis geworden, als kreuzten sich hier sämtliche Ungerechtigkeiten der postkolonialen Welt. Das war vorher schon heikel, nun ist es fatal. Wer gewalttätigen Judenhass mit der Subalternität (hegemonialen und ausgrenzenden Politik) der Täter rechtfertigt, hat alle Kapazität zur Grenzziehung nach rechts verloren. Ganz aktuell eignen sich autoritäre Führungen weltweit die Causa Palästina an, Antisemitismus als Brot für die Armen."

Menschenrechte gelten für alle und überall auf der Welt. Ohne Ausnahmen!


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5 Kommentare verfügbar

  • Harald Habich
    am 19.11.2023
    Antworten
    Der tiefe Graben in Israel zwischen den extremistischen Akteuren auf der israelischen Regierungs./Siedlerseite einerseits und den Extremisten auf der palästinensischen Seite andererseits findet hier bei uns seine Fortsetzung, wie aus dem nachvollziehbaren Bericht von Gerd Rathgeb entnommen werden…
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