KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Israel und Palästina

Full Metal Kulturkampf

Israel und Palästina: Full Metal Kulturkampf
|

Datum:

Der Diskurs um die jüngsten Ereignisse im Nahost-Konflikt ist vollkommen aus dem Ruder gelaufen und folgt einer grassierenden Militärdoktrin, meint unsere Kolumnistin.

Was ist das alles eigentlich gerade für ein unmenschlicher Abfuck? Seit die Hamas vor über einem Monat den tödlichsten Tag für Jüdinnen und Juden seit dem Holocaust verursacht hat, wurde die Welt mal wieder ein Stück beschissener. Auch in Deutschland. Offline wie online. Unzähligen platzten die Bauchgefühle aus dem Gesicht: Irgendwelche Steffis, die sich sonst für wenig außer Ketamin, Undercuts und Party interessieren, hielten bis zur legitimen Verteidigung Israels schön ihre Schnauzen, um dann, von selektivem Humanismus erfasst, "Free Palestine" auf ihre queerfeministischen Transpis zu kritzeln und Israels Recht auf Selbstverteidigung als "Genozid" zu erklären. Irgendwelche Jürgens wussten, dass "die Juden" ja auch irgendwie selbst Schuld seien, weil HALLO?? die Palästinenser waren zuerst da, ja?!? Irgendwelche Self-Enhancement-Pulver-Clowns, die sich sonst einen Scheißdreck für den Nahostkonflikt interessierten, fühlten sich plötzlich dazu berufen, seitenlange Abhandlungen über die Zweistaatenlösung zu verfassen, um paarungsbereite Weibchen zu beeindrucken.

Rechte instrumentalisierten den Angriff der Hamas sofort für ihre rassistischen Programme; Grüne und Sozialdemokraten maskierten ihre Abschiebegeilheit mit Israel-Solidarität; Linke verklärten ihren Antisemitismus mit vorgeblichem Antiimperialismus; der kanadische Rechtsliberalo und Möchtegern-Volksintellektuelle Jordan Peterson twitterte/x-te "give 'em hell" und taggte dabei Benjamin Netanjahu, damit der jetzt so richtig aufdrehen möge, um die verdammten Araber endlich aus dem Landstrich zu bomben; in Berlin wurden direkt nach den Massenschlachten der Hamas "auf dem arabischsten Straßenzug Deutschlands" ("Zeit Magazin"), der Neuköllner Sonnenallee, zur Feier der Morde Süßigkeiten verteilt; in Wuppertal haben rund 2.000 Menschen an einer Pro-Palästina-Demo teilgenommen, auf der, nebst einer Rede der linken Europaabgeordneten Özlem Demirel, die Bombardierung Gazas mit der Bombardierung Dresdens 1945 verglichen wurde; die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) schlug Demos nur noch für Deutsche vor, um die deutsche Staatsräson der Solidarität mit Israel (was auch immer das genau sein mag) zu zementieren; in den USA haben Boulevard-Kasper des zu "Fox News" gehörenden Medienformats TMZ derweil große Hoffnungen, dass Dwayne "The Rock" Johnson den Nahostkonflikt lösen wird, nachdem er und andere Hollywood-Schauspieler:innen Präsident Biden einen Brief geschrieben haben, in dem sie die Freilassung der israelischen Geiseln fordern.

Auch Blume teilt Schmutz eines Rechtsradikalen

Und spätestens seit "Mitte"-Apologeten wie SPD-Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und der baden-württembergische Landesbeauftragte für Antisemitismus, Michael Blume, den groben Schmutz des rechtsradikalen britischen Journalisten Douglas Murray auf ihren Social-Media-Plattformen teilten, bleibt nur zu sagen: Shit. Is. All. Over. The. Place. Was zum Fick passiert hier? Wenn deutsche Parlamentarier:innen und andere Vertreter:innen einer "offenen Gesellschaft" einem rechten Rabbi zustimmen, der ein Video feiert, in dem besagter Murray alle Palästinenser:innen für Abschaum hält? Ein Video, in dem Murray erklärt, dass die Hamas schlimmer als die Nazis seien, weil SS-Bataillone immerhin noch einen Funken Menschlichkeit besessen und sich hätten betrinken müssen, um den Juden von hinten in die Köpfe zu schießen. "Schon mehrfach habe ich darüber gesprochen & geschrieben, dass die #Nazis ihre Massenmorde noch versteckten – die #Hamas diese aber wie zuvor #Daesh medial zelebriert […]", brüstet sich Michael Blume, als er Murrays Bericht teilt – gerade so, als gäbe es nicht unzählige Belege dafür, wie Nazis Spaß an der Ausrottung von Millionen Juden und anderen "Volksschädlingen" hatten und Genugtuung dabei verspürten. Als ob es den deutschen Blumes besser gehe, wenn sie die Nazi-Schuld ihrer Vorfahren auf "die Palästinenser:innen" und ein noch böseres Böses projizieren können.

Auch "Focus"-Kolumnist Jan Fleischhauer findet das, was Murray sagt, "großartig" und fragt gleich in seiner neusten Kolumne: "Deutsche Juden oder Aggro-Araber: Wen wollen wir halten?" Ist das die deutsche Staatsräson, von der Angela Merkel vor der Knesset im Jahr 2008 sprach?

Eines ist seit dem 7. Oktober 2023 und seit dem Gegenangriff Israels klar: So kann's nicht weitergehen. Never ever. Sorry. Auch wenn Israel ein legitimes Recht auf Selbstverteidigung hat. Denn – surprise – Palästinenser:innen sind auch Menschen, so sehr das Politiker wie der republikanische Abgeordnete Brian Mast aus Florida und Rechte in Deutschland gerne abstreiten und Palästinenser:innen schlichtweg dehumanisieren. Auch Mast vergleicht, wie Murray, die Hamas mit den Nazis und erzählt in einer aktuellen Rede im US-Repräsentantenhaus, dass es im Grunde genauso wenig "unschuldige Palästinenser" gäbe, wie es "unschuldige Nazi-Zivilisten" im Zweiten Weltkrieg gegeben hätte. Gerade so, als wären alle Menschen in Florida "hirntote Bigotte mit einem Penis als Kopf", wie der Late-Night-Komiker John Oliver in seiner sehenswerten jüngsten Folge von "Last Week Tonight" auf HBO konterte. Doch auch in der hiesigen Diskussion werden Palästinenser:innen ebenso wie Israelis oftmals als Monolithen wahrgenommen, die identisch sind mit der jeweiligen politischen Führung und damit verantwortlich für deren militärische Eskalationen.

Im Stellungskampf voller Klischees und Halbwissen

Im völlig aus dem Ruder gelaufenen Diskurs um den Nahostkonflikt fällt eines auf: So weit weg von dem, was US-amerikanische Republikaner unwidersprochen sagen können, ist Aufrüstungsschland aktuell nicht mehr. Es ist dasselbe Schwarz-und-Weiß-Spiel. Parteienübergreifend. Dieselbe grassierende Militärdoktrin, mit der es fast unmöglich erscheint, israelische Zivilist:innen wie palästinensische Zivilist:innen gleichermaßen als Menschen zu sehen, die es alle nicht verdient haben, zu sterben. Doch im deutschen Stellungskampf Pro-Israel vs. Pro-Palästina treten Menschen oftmals in den Hintergrund. Dafür wird mit Klischees und Projektionen operiert, mit gefährlichem politischem und historischem Halbwissen, nur um sich, der Positionierungspistole auf der Brust erlegen, in seiner Insta-Story so zu positionieren, dass es der eigenen Peergroup gefällt.

Was in der irren Gemengelage zu den jüngsten Eskalationen im Nahen Osten oftmals vergessen wird: wie beide, die terroristische, antisemitische Hamas und die ultrarechte israelische Regierung, ihre Leute gleichermaßen abfucken. Wer mal raus aus seiner Pro-Palästina- oder Pro-Israel-Blase will, schaut sich John Olivers Sendung auf HBO an und staunt über die eigenen blinden Flecken. Da wäre zum Beispiel das auch in Deutschland oft gebrauchte Argument, dass die Palästinenser:innen die Hamas ja selbst gewählt hätten. Ja, haben sie. Einmal. Im Jahr 2006, als Palästinenser:innen die "Wahl" zwischen einer korrupten Fatah und einer Hamas hatten, deren damaliger Führer Ghazi Hamad kurz vor der Wahl 2006 verkündete, eine "moderate", "open minded", "nicht radiakale", "nicht extremistische", "nicht fundamentalistische" Organisation zu sein, die an "Demokratie und Freiheit" und "politischen Pluralismus" glaube. Derselbe Ghazi Hamad, der jetzt die Massaker an Israelis rechtfertigte und sie auch weitere zwei, drei und mehrere Male mehr wiederholen will.

Widerstand aus dem Co-Working-Space ist einfach

Da wären die Entführungen, die Folter und Tötung von Palästinenser:innen durch die Hamas, denen vorgeworfen wurde, mit Israelis kooperiert zu haben. Da wären die Proteste im Juli, bei denen Palästinenser:innen in Gaza gegen die Hamas auf die Straße gingen. Da wäre eine Umfrage, kurz vor dem 7. Oktober, bei dem 73 Prozent der Palästinenser:innen sich für eine friedliche Einigung im Israel-Palästina-Konflikt ausgesprochen haben. Da wäre ein Leben am sprichwörtlichen Arsch der Welt, in dem Widerstand gegen die Hamas vielleicht von einem deutschen Co-Working-Space aus einfach erscheint. Da wären 76 Prozent Israelis, die wollen, dass sich Netanjahu verpisst; die ihn für die Sicherheitslücken verantwortlich machen, die den Hamas-Angriff im Oktober ermöglichten. Vollgestopft mit lauter ultrarechten Extremisten hat Israel mit Benjamin Netanjahu die rechteste Regierung seit der Staatsgründung Israels 1948 – etwa mit Leuten wie dem Rechtsextremisten Itamar Ben-Gvir, dem Sicherheitsminister (!) Israels, der wegen mindestens acht Straftaten verurteilt wurde – unter anderem wegen der Unterstützung einer Terrororganisation – und sogar von der israelischen Armee ausgeschlossen wurde.

Doch nach wie vor inszeniert sich Netanjahu als starker Mann und Retter Israels, obwohl es einfach Fakt ist, dass er es war, der die Hamas "nutzte", um die Palästinensische Autonomiebehörde auf der Weltbühne mit der "Teile und Herrsche"-Strategie zu schwächen. Genau das präsentierte der jetzige ebenfalls ultrarechte Finanzminister Israels, Bezalel Smotrich, bereits im Jahr 2015 als politische Strategie im "Knesset Channel": "internationale Delegitimierung" – um die terroristische Hamas als Mittel für die eigene Macht und Kontrolle unter dem Vorwand israelischer Sicherheitsbestrebungen zu nutzen. Die Hamas als "nützliches Mittel" für die Sicherheit Israels. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.

Klar, all diese Einsichten lösen den Nahostkonflikt nicht. Und wer bin ich, um zu beurteilen, wie sich Israel zu verteidigen hat. Aber sie helfen, um die eigene moralische Brille mal wieder zu putzen und darüber nachzudenken, ob es geil ist, zu Hause zu sitzen, sich in den Social Media auf eine Seite zu schlagen und in der eigenen Filterblase so zu retardieren, dass es nur noch "gute tote Zivilist:innen" und "schlechte tote Zivilist:innen" gibt.

Am Ende von John Olivers politischer Satiresendung – von der sich ein Jan Böhmermann mal eine Scheibe abschneiden sollte – plädiert der Israeli und Friedensaktivist Rami Elhanan, dessen 14-jährige Tochter 1997 bei einem Terroranschlag in Jerusalem getötet wurde, auch jetzt, nach dem Massaker am 7. Oktober, nicht für Vergeltung. Wie andere Eltern getöteter palästinensischer und israelischer Kinder setzt er sich im "Parents' Circle – Families Forum" weiter für eine friedliche Lösung des Konflikts ein. Klingt für manche Justice Warriors in den Sozialen Medien verrückt. Aber wenn dir ein Mann, der sein Kind durch ein Selbstmordattentat verloren hat, erzählt, dass Israelis und Palästinenser:innen gemeinsam entscheiden müssen, ob sie sich das Land oder die Friedhöfe darunter teilen wollen, dann sollte man hinhören.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


10 Kommentare verfügbar

  • Peter Nowak
    am 20.11.2023
    Antworten
    Elena Wolf steht mit ihren Artikel in der Tradition einer linken Polemik von Karl Kraus bis Hermann L. Gremliza. Erfreulich, dass man von ihr nicht nur im Kontaext sondern auch in der Monatszeitung Konkret wohl in Zukunft mehr lesen wird.

    Zum Artikel: Sie hat ein Beispiel gegeben, wie man die…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!