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MeToo im Musical

Tanz der Boomer-Vampire

MeToo im Musical: Tanz der Boomer-Vampire
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Als Teenagerin war unsere Kolumnistin "Tanz der Vampire"-Fan. Jetzt, 23 Jahre später, hat sie sich das Musical vor seinem Stuttgart-Aus nochmals angesehen – und war entsetzt.

Jetzt ist es passiert: Der Zahn der Zeit hat sich auch in meinen Hals geschlagen, und ich muss zugeben, dass früher alles besser war. Haha, Spaß, natürlich nicht. Siebeneinhalb Stunden "Helmut-Kohl-Protokolle" von Heribert Schwan als Hörbuch zum Beispiel dürften ausreichen, um festzustellen, dass das Deutschland, das sich heutzutage viele zurückwünschen, schon damals scheiße war. Auch das der Neunziger. Jaja, schon klar, nicht ALLES war schlecht. Die Krautwickel von meiner Oma waren zum Beispiel genial. Oder die Backstreet Boys und Britney Spears! Ich hatte zwar nie eine ausgeprägte BSB- oder Britney-Phase – aber wer nicht objektiv anerkennen will, dass "Toxic" von Britney Spears einer der besten Popsongs aller Zeiten ist, checkt einfach gar nichts.

Warum also nicht nach 20 Jahren nochmals in "Tanz der Vampire" gehen – das Musical, das ich mit 13 oder 14 so abgefeiert habe? Seit ich als Kind Anfang der Neunziger zum ersten Mal "Der kleine Vampir" im Fernsehen gesehen habe, bin ich Vampir-Fan. Ich ging als Vampir zum Fasching; später war "Buffy – Im Bann der Dämonen" (1998 bis 2003) meine absolute Lieblingsserie. Ich weiß alles über Vampire, haha! Hab mich nachts vor den Fernseher geschlichen, um "Interview mit einem Vampir" (1994) oder "Blade" (1998) zu glotzen und meine Vampir-Liebe zu festigen, die heute ästhetisch und inhaltlich zwischen "Dracula" (1958), "Bram Stoker's Dracula" (1992), "So finster die Nacht" (2008) und "What We do in the Shadows" (Film von 2014 und Serie ab 2019) oszilliert. Und klar: Als heranwachsender Vampir-, Horror- und Rock-Fan musste ich eben auch "Tanz der Vampire" sehen, hab die Songs aus dem Musical zuhause auf dem Klavier nachgespielt und voller Inbrunst dazu gesungen.

Und selbst heute noch hör ich manchmal einzelne Songs aus dem Musical an (Originalbesetzung mit Kevin Tarte als Graf von Krolock!). Denn "Tanz der Vampire" ist bekanntlich ein Rockmusical. Die Songs, die darin vorkommen, sind zu großen Teilen Adaptionen oder musikalische Coverversionen großer Pop- und Rocksongs von Bonnie Tyler, Meat Loaf oder David Bowie. Das hat auch einen einfachen Grund:

Die Musik zum Musical hat Jim Steinman komponiert. Derselbe Mann, der die meisten Stücke für Meat Loaf geschrieben und neben "I'd Do Anything for Love (But I Won't Do That)" auch den Überhit "Total Eclipse of the Heart" von Bonnie Tyler komponiert hat. Songs, die seit ich denken kann bis heute im Radio rauf und runter laufen. Das wusste ich mit 13 Jahren natürlich alles noch nicht. Aber eben jetzt. Was also soll schon schiefgehen, sich "Tanz der Vampire" über 20 Jahre später noch einmal anzuschauen, bevor das Musical nach über 3.000 Aufführungen nicht mehr in Stuttgart zu sehen sein wird? Geile Rocksongs und Vampire! Yeah!

Kindheitserinnerungen im Realitäts-Check

Naja. Alles sollte schiefgehen. Es gibt nichts Schlimmeres, als eine schön-verklärte Kindheits- oder Jugenderinnerung, die viele Jahre später einem nüchternen Realitäts-Check mit den Augen einer Erwachsenen ausgesetzt wird. Wer als Kind im "Märchengarten" des "Blühenden Barock" in Ludwigsburg war und als Erwachsener dahin zurückkehrt, weiß, was ich meine: Weg ist der Zauber. Überall ruckelnde Mechanik deprimierender Weltlichkeit. Sich nach 20 Jahren nochmals "Tanz der Vampire" anzuschauen, fühlte sich exakt so an wie 20 Jahre später nochmal "Voll normaaal" (1994), "Ballermann 6" (1997) oder "Der Schuh des Manitu" (2001) anzuschauen: Nach zehn Minuten will man einfach nur abschalten – egal, wie sehr man darüber früher mal gelacht hat. Es geht einfach nicht mehr. Not funny anymore. Tschau Kakao. Doch während ein Film eben ist, wie er ist, und nach 20 Jahren nix dafür kann, dass vieles, was früher mal für lustig erachtet wurde, heute nicht mehr lustig ist, könnte man ein Musical, das über Jahrzehnte hinweg live aufgeführt wird, ja inhaltlich anpassen.

Wieso also bei Draculas Blutblase kam denn nie irgendwer in verantwortlicher Position darauf, dass es im Jahr 2023 nicht mehr lustig ist, wenn die 17-jährige Wirtstochter "Sarah" von ihrem Vater und übergriffigem Sexferkel "Chagal" zum Takt von Musical-Musik von ihm verdroschen wird, weil sie sich gerne mit einem Jungen ("Alfred") in ihrem Alter treffen möchte? "Eine schöne Tochter ist ein Segen – doch ein Segen der meschugge macht" singt "Chagal", während er seine Tochter in ihrem Zimmer einsperrt und die Tür vernagelt, damit sie kein "geiler Lüstling" befingern kann. Das war vielleicht unter Roman Polanskis Regie bei der Uraufführung in Wien noch unterhaltsam. Der fand's bekanntlich aber ja auch unterhaltsam, Sex mit einer 13-Jährigen zu haben. "Dir würd's schaden, mir würd's schaden, uns würd's schaden. Bleib bei Papa." Bäh! Wieso lassen sich die Musical-Darstellerinnen, die die Magd "Magda" spielen, im Jahr 2023 immer noch zu Hupen-Geräuschen an die Brüste fassen in einer Szene, in der auf unterhaltsame Art festgestellt werden soll, ob "Magda" nach einem Vampirangriff auch wirklich tot ist? Weil's immer noch so im Drehbuch steht?

Oh, boi, ich hab' auch oft 'nen abgefuckten Humor und meine Pillermann-Jokes sind leider witziger als die Polizei erlaubt (upsi) – aber in einer Zeitkapsel zu sitzen, in der sich seit 25 Jahren nichts verändert hat, ist in den allermeisten Fällen ungefähr so cool wie eine Zahnsteinentfernung. Als ich nach etwa 20 Minuten realisiert habe, wohin der Unterhaltungszug im Palladium-Theater des SI-Centrums fährt, fiel mir ein, dass es irgendwo im Stück ja auch noch einen schwulen Vampir gab. Uff. Ich erinnerte mich daran, wie ich den als Kind super fand. Jetzt hatte ich einfach nur Schiss, von einer heißen Welle Cringe überrollt zu werden und davor, dass meine bescheuerten Nebensitzerinnen, Typ Kelly-Family-Fans, wieder glucksen. Denn wenn 90er-Jahre-Sexismus und körperliche Züchtigung von Kindern hier noch beklatscht werden, wie würde es bloß werden, wenn dieser schwule Vampir seinen Auftritt hat? Herbert. Oh, Gott. Also "Heeeeerbeeeeert". Als das Jahrzehnte alte personifizierte Klischee eines homosexuellen Mannes mit einem "Hallööööle" und keck in die Hüften gestellten Armen die Bühne betritt, bricht die Hälfte des Publikums schier zusammen vor Lachen. Dass er den unschuldigen, heterosexuellen Assistenten des Vampirjägers "Professor Abronsius", "Alfred", am liebsten an Ort und Stelle versexen würde und ihn im weiteren Verlauf des Musicals immer wieder bedrängt: eh klar! Er ist ja schwul! Und so sind se halt die Schwulen, haha, HALLÖLE!

Als hätte es MeToo nie gegeben

Und so geht es in einem fort: Als "Chagal", der seine Tochter wegen ihrer Gefühle für einen Jungen verdroschen hat, selbst zum Vampir wird, ist ihm "Magda", die sich als Hausangestellte immer wieder sexuelle Übergriffe ihres Hausherren gefallen lassen musste, selbstverständlich verfallen. Während die Idee dahinter wahrscheinlich ursprünglich mal war, dass beide, nun als Vampire, frei von Konventionen ihren Trieben freien Lauf lassen können, kommt an diesem Abend nur das frauenfeindliche Mantra "No means yes" rüber: Am Ende wollte sie es ja doch die ganze Zeit, obwohl sie Nein gesagt hat. Selbst abseits von verklemmtem Neunziger-Schwulen- und Busengrapscherwitz: Bis auf ein paar situationskomische Gags, okay gespielte Songs und die Tatsache, dass "Chagal" als Vampir nicht allergisch auf Kruzefixe reagiert, weil er "ein jüdischer Vampir" ist, saß ich einfach über zwei Stunden mit offenem Mund da, weil ich es nicht glauben konnte, wie hängengeblieben und blutleer dieses Boomer-Musical ist. Genau wie das Publikum.

Als hätte es MeToo nicht gegeben. Als würden offen Homosexuelle nicht mittlerweile Politik in rechtsradikalen Parteien machen. Selbst das Bühnenbild und die Requisiten sind seit den 1990ern nicht mehr abgestaubt worden: Die Beamer-Projektion einer computersimulierten Kamerafahrt hoch zum Schloss des Vampirgrafen von Krolock sieht aus wie aus einem Videospiel, das heute keine 13-Jährige mehr mit dem Arsch anschauen würde. Als wäre die Welt seit der ersten Aufführung von "Tanz der Vampire" im Jahr 1997 einfach stehen geblieben.

Wie kann das sein? Wieso hat sich niemand aus dem Produktionsteam mal hingesetzt und das Musical mit der gesellschaftliche Realität abgeglichen? Die Antwort ist so traurig wie einfach: weil das bei "Tanz der Vampire" einfach nie gemacht werden musste. Weil die Säle seit 25 Jahren einfach voll sind, obwohl passable Sitzplätze etwa 140 Euro kosten. Weil 3.000 Aufführungen ihm einfach recht geben. Weil "Tanz der Vampire" eine nostalgische Reise zurück in eine Zeit ist, in der "Gendergaga" und der ganze woke Scheiß noch keine Rolle spielten und die Welt im Kopf vieler Leute ein Stückchen besser war. Wo ist die Cancel-Culture, wenn man sie mal braucht, hä?


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7 Kommentare verfügbar

  • Luca Rüffert
    am 30.06.2024
    Antworten
    Man sollte sich beim schauen des Stückes in Bezug auf moderne Moral und progressives Denken zwei Dingen bewusst sein:

    Das Stück ist mittlerweile über 25 Jahre alt und viele der Ansichten in Bezug auf den Umgang mit Frauen hat sich in den letzten Jahren sehr verändert und (positiv)…
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