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Mitte der Gesellschaft

Fascho-Pride und falsche Empörung

Mitte der Gesellschaft: Fascho-Pride und falsche Empörung
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"Die Mitte" war schon immer die Mitte von rechts, meint unsere Kolumnistin. Kein Wunder, dass die "Brandmauer gegen rechts" wankt.

Kreisch! Ein AfDler ist in Thüringen Landrat geworden! Oje, oje, oje, "wie konnte das nur passieren", raunt es seit Anfang der Woche durch klassische und soziale Medien. Ganz vorne mit dabei: Diejenigen, die sich für Angehörige der "Mitte der Gesellschaft" halten, oder proklamieren, für diese Mitte Politik zu machen. Wie Friedrich Merz zum Beispiel – der Christdemokrat und Frauenversteher, der 1997 dagegen stimmte, Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe zu stellen. Heute verdreht er diese Tatsache zwar gerne und verklärt seine Stimme als empathisches "Schutzinteresse betroffener Frauen" vor Frauen, die ihren verhassten Ehepartner zu Unrecht wegen Vergewaltigung anzeigen könnten. Ist jetzt nichts Neues, dass sich Rechtskonservative ihren rechtskonservativen Scheiß selbst zurechtbiegen müssen, wenn sie mit der Tatsache konfrontiert werden, dass Frauen, Arbeitslose, Flüchtlinge oder Menschen außerhalb der heterosexuellen Matrix auch Menschen sind. Ahja, bin abgeschweift, wir waren ja bei der "Mitte" der Gesellschaft – also denen, die weder "links" noch "rechts" sein wollen und es sich im geistigen Gräbele (some call it "Besucherritze) des elterlichen Ehebetts gemütlich gemacht haben.

"Alle Extreme" sind nämlich schlecht – so wird es der Gräbele-Gesellschaft der imaginierten "Mitte" immer wieder seitens des Verfassungsschutzes und der "Mitte"-Politik eingebläut: Egal ob Neonazis Flüchtlingsheime anzünden oder Antifaschist:innen diejenigen verprügeln, die auf der Seite derer stehen, die Flüchtlingsheime anzünden – beides gleich schlimm. Der Staat unterscheidet eben nicht zwischen "guter Gewalt" und "schlechter Gewalt", solange er sie nicht selbst ausübt. Kein Problem für die gefühlte "Mitte" Deutschlands. Da ist es warm. Da kann man's aushalten. Wäre da nicht diese verdammte "linksgrüne" Weltverschwörung, die einem die Wurst für Flüchtlinge vom Brot gendert und die Kontrolle über Staat und Gehirne übernommen hat! Also den Staat, in dem rund 600 (Stand Dezember 2022) mit Haftbefehl gesuchte Neonazis frei rumlaufen und angeblich nicht gefunden werden können.

Kein Wunder, dass sowas passiert

Ganz normal für "die Mitte". Denn "linke Gewalt ist genauso schlimm wie rechte Gewalt" besagt ein Mitte-Mantra, das stets von denen kommt, denen rechte Gewalt völlig egal ist. Betrifft einen ja nicht. Und wenn der Staat nicht in der Lage ist, die ganzen Ausländer wieder aus dem Land zu schmeißen, braucht sich ja niemand zu wundern, dass SOWAS dann passiert. Aus Notwehr. Haben nicht eine verkackte "Entnazifizierung" und Jahrzehnte von systematisch-paranoidem Anti-Kommunismus und anti-linker Propaganda im kapitalistischen System dazu geführt, dass "den ganz normalen Leuten" Rechtsradikale stets näher blieben als Antifaschist:innen?

Eine Stigmatisierung der Rechten hingegen hat es schlichtweg nie wirklich gegeben. Weil "der Demokratie", die Gräbele-Deutsche und selbst Linksliberale stets heranziehen, um sie als heilsversprechenden Gegensatz zum Faschismus zu stilisieren, rechte Gesellschafts- und Politikanteile auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer inhärent waren. Nur deshalb konnte "sowas" wie die AfD "passieren": weil es schon immer da war. Weil es nie weg war. Weil "die Demokratie", die im gratismutigen "Kampf gegen rechts" von Politiker:innen wie Nancy Faeser verteidigt werden will, es zugelassen hat, dass sich rechtes Gedankengut breit machen konnte und sich dessen Sprachrohre wieder radikalisieren konnten. Weil rechter Müll durch "die Mitte" über viele Jahrzehnte so normalisiert wurde, dass er "ganz normalen Leute" gar nicht mehr menschenfeindlich und regressiv erscheint.

Und ein paar Wirtschafts- und Gesellschaftskrisen später ziehen die, die "unsere Demokratie" wie eine Monstranz mit vergifteter Hostie vor sich hertragen, lange Gesichter, weil Menschen partout nicht verstehen wollen, was denn bitteschön Rassistisches, Frauen- und LSBTQ-Feindliches im AfD-Programm stehen soll. Wie sollen sie es auch verstehen, wenn selbst "Mitte"-Politiker wie Friedrich Merz, ehemalige oberste Verfassungsschützer wie Hans-Georg Maaßen, Polizeigewerkschaftsbosse und zahlreiche andere Demokratie-Apologeten sich immer weniger von AfD-Politiker:innen unterscheiden lassen? Wenn sie rechtes Wording und Framing, deren politische Inhalte im "Mitte"-Mäntelchen übernehmen und Gendern, "Wokeism", Klimaschutz und Panik vor zu wenig Fleisch in der Kantine ebenfalls als Hauptprobleme im Land erachten? Während mal wieder Hunderte Menschen im Mittelmeer ersaufen, Reiche immer reicher, Arme immer ärmer werden, Bildungs- und Sozialeinrichtungen marodieren, das Gesundheitssystem totprivatisiert wird, Lebensräume immer unbewohnbarer werden und das Renteneintrittsalter bald bei 100 Jahren liegen wird?

Diese "Mitte" hat nie eine "Brandmauer gegen rechts" gezogen, weil sie sich dann selbst eingemauert hätte. Sie ist mit ihrer hohen Toleranz gegen rechte Weltanschauung und Politik Teil des Problems. Jetzt hat Merz nach der Wahl des AfD-Landrats in Thüringen also die Grünen als "Hauptgegener in der Bundesregierung" ausgemacht, während seine Normalisierung und Förderung der gesellschaftlichen Akzeptanz rechter Politik und Weltanschauung Früchte trägt: In der aktuellen Ausgabe des "Stern" prangt AfD-Chefin Alice Weidel auf der Titelseite, weil der "Stern" sich einbildet, sie mit der kecken Frage "Was können Sie eigentlich außer Hass, Frau Weidel?" entzaubern zu können.

Immerhin: noch ein Fitzelchen Gehirn

Im "Stolzmonat", dem rechten Gegenentwurf zum "Pride month", hetzen "ganz normale Deutsche" seit Wochen gegen alles Mögliche, das ihrer Ansicht nach das Land kaputt macht: also eben wieder Flüchtlinge, Gendersprache, Cancel Culture, "woke Minderheiten", "Linksgrüne", Klimakleber, Abtreibungsbefürworter:innen, Drag Queens, alles mit "Trans", blablabla. Im "Stolzmonat" wird in den Sozialen Medien unterm gleichnamigen Hashtag gesagt, was ja eigentlich nicht mehr gesagt werden darf. Ein performativer Widerspruch, der sich ebenfalls längst in "der Mitte" breitgemacht hat und nichts anderes beklagt, als dass rechtes Gesabbel nicht unwidersprochen bleibt. Was soll man da denn auch anderes machen, als aus "Notwehr" AfD wählen? Haben die ganzen linkswoken Klimagendertransen einen doch dazu gezwungen, Faschist:innen zu wählen!

Das einzig Gute an diesem "Ich musste aus Notwehr Faschos wählen"-Argument ist, dass es offenbar noch ein Fitzelchen Gehirn bei den "ganz normalen Leuten" gibt, in dem sich sowas wie schlechtes Gewissen meldet, vielleicht sogar Scham. Also, dass sich Menschen wieder mehr dafür schämen, Rechtsradikale zu unterstützen. Ob das in naher Zukunft passieren wird, kann bezweifelt werden. Einfach zu tief verankert in einer Mitte, die immer die Mitte von rechts war. Dass Faschisten wie der österreichische Ex-Sprecher der rechtsextremen "Identitären Bewegung", Martin Sellner, jetzt auch noch TikTok für sich entdeckt haben, macht es nicht einfacher. In einem Video inszeniert er sein "Coming out" als Rechter und kämpft für die "diskriminierte Gruppe der Rechten". Damit sich eines Tages alle in Deutschland und Österreich "so frei outen können" wie er und ja vielleicht auch eine Fascho-Pride-Parade bekommen. "Die Schwulen" haben ja auch ne Parade, so die Logik. Ganz normal halt.


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3 Kommentare verfügbar

  • Rainer
    am 30.06.2023
    Antworten
    Leider habe ich nur zwei Daumen, die aber ganz hoch für den Artikel!. Mittlerweile auch schon fast normal geworden, kaum einer rafft es: diese ätzenden Fascho-Frisuren, mittlerweile bei Kindern ankommen, könnte im Strahl kotzen, jedesmal wenn ich das sehe. Mein Opa (damals Möchtegern-Nazi) trug die…
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