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Maskenball Schloss Solitude

Horrorkopfkino der guten Laune

Maskenball Schloss Solitude: Horrorkopfkino der guten Laune
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Auf dem Stuttgarter Schloss Solitude fand ein mystischer Maskenball der Schönen und Reichen statt – die Hofberichterstattung der "Stuttgarter Zeitung" liefert die perfekte Vorlage für antikapitalistisches Kopfkino, schreibt unsere Kolumnistin.

Ich weiß nicht, wie andere Leute den Wahnsinn dieser Welt copen, vielleicht mit Pilates, Eigenurin-Diät oder dem Rückzug in toxische Liebesbeziehungen, die die privaten Probleme größer als die globalen erscheinen lassen (clever!). Ich jedenfalls habe auf meinem Handy diverse Ordner mit Bildern, Videos und Screenshots, die ich regelmäßig befülle, neu erstelle und mir immer mal wieder zwischendurch ansehe, um mich zu beömmeln. Da gibt es etwa den Ordner "Doggos": Einen Ordner, der prall gefüllt ist mit Bildern und Videos, in denen zum Beispiel irgendein Scherzkeks seinem schlafenden Corgi ein Mikrofon mit Hall an den Hintern hält und wartet, bis dem Corgi ein respektabler Furz entweicht, der den Corgi entsetzt hochschrecken lässt.

Und dann ist da der Ordner "Mega Trash". Fragt mich nicht, unter was für Kriterien ich da Bilder und Videos abspeichere. In meinem Gehirn macht es Sinn, dass sich darin ein Screenshot aus der Zeit befindet, in der Schwurbelbarde Michael Wendler noch auf Instagram war und nebst einem unfassbar affigen Bild von sich selbst mit venezianischer Maske und Thomas-Gottschalk-Gedenk-Sakko in einer Umfrage wissen wollte: "HALLO FANS!!! WOLLT IHR DASS ICH MAL WIEDER 'LIVE' AUF INSTGRAM GEHE?" Ergebnis: "NEIN (65%)". Vergangene Woche ist zu den Ordnern mit den digitalen Gemütsaufhellern ein neuer dazu gekommen: "Schwäbische Eyes Wide Shut" – voll mit den Highlights aus der 30 Bilder starken Fotostrecke der "Stuttgarter Zeitung" zu einem "mystischen Maskenball" auf Schloss Solitude. "So glamourös und sexy feiert man in Stuttgart", heißt es in der nicht weniger mystischen Hofberichterstattung von Uwe Bogen. Zwar blickt man nicht, was es genau mit der Veranstaltung auf sich hat und wie die mehr und minder bekannten Leute, die auf den Bildern zu sehen sind, auf ihr gelandet sind. Aber das ist auch vollkommen egal, denn so sexy und glamourös kommt die Stuttgarter High-Society nicht mehr zusammen, um das perfekte Setting für einen schwäbischen "Eat the rich"-Genrefilm zu liefern:

Ein Schönheits-Chirurg mit Michael-Wendler-Aura, der seine trophy wife und Beautyfilter auf zwei Beinen im Arm hält wie Frankensteins Braut; weiß gequetschte Zehen in durchsichtigen Plastik-High-Heels; die Witwe von Gerhard Mayer-Vorfelder; eine städtische Mode-Ikone für gelangweilte Killesberg-Hausfrauen mit glitzerndem "Nirvana"-Bandshirt; Volksfest-VIPs und andere C-Promis. Alle in Abendkleid, Smoking und mit venezianischen Masken. Gehauchte Küsschen, Duckfaces und der Geruch von Schampus, Plastikschweiß und Jean Paul Gaultiers "Le Mal" in der Luft. Und mittendrin: Gudrun Nopper, die Frau des Stuttgarter Oberbürgermeisters mit ihrem Sohn und Jurastudenten Carl Alexander, der sich von seiner Mutter offenbar unter der legitimen Bedingung, keine Maske tragen zu müssen, als Begleitung breitschlagen ließ, nebst einem nicht näher identifizierbaren, mystischen "Freund", wie es in der Bildunterschrift der StZ heißt. Der Schultes selbst war auf keinem Bild zu sehen – eher ungewöhnlich für den Feschtlesmeischter Number One, aber okay.

Damals wie heute Dekadenz

"Das hätte Herzog Carl Eugen 230 Jahre nach seinem Tod gut gefallen", weiß Berichterstatter Bogen. Hätte der Regent doch genauso wie sein Vorbild, der französische König Ludwig XV., "gern Feste gefeiert, die er von Versailles in Paris übernahm". Und es stimmt: Der Herzog Carl Eugen, den Bogen als glamourösen Aufhänger für seinen Text wählte, war ein feiergeiles Sexferkel, das Württemberg im 18. Jahrhundert mit seiner Luxus-Sucht fast in den Ruin trieb, seine Mutter nach einem Streit einsperren ließ und Schiller aus der Stadt jagte. "Und doch hat er Bleibendes geschaffen", steltt Bogen klar, "neben dem Schloss eine riesige Nachkommenschaft – mit angeblich 300 unehelichen Kinder [sic]". Wow. Ein richtig royaler Fuckboy, der auf Kosten Dritter so richtig sexy und glamourös die Sau rausgelassen hat. Wie beim Maskenball auf des Herzogs Schloss Solitude! Nagut, fast. An der mystischen Sause konnte laut Facebook-Werbung der "Schloss Solitude Gastronomie" für das Event "Masquerade" theoretisch jeder Affenspinner teilnehmen, dem ein paar geile Instagram-Stories und von der hiesigen Presse begleitetes Großbürger-Larping 125 Euro wert war.

Dafür gab es nicht nur "Champagner-Empfang, Flying Buffet, Mitternachtssnack, Wein, Bier & alkoholische Getränke", Live-Musik, Stuttgarter-High-Society zum Anfassen und venezianisch-absolutistisches Flair am Hofe des Party-Herzogs, nein, ganz stilecht gab's on top auch einen dunkelhäutigen Diener – den hatte auch die Madame du Barry, eine Mätresse von Ludwig XV, bevor er eine Ikone der Französischen Revolution wurde und die du Barry unters Beil brachte: Zamor. Es ist an Zynismus und schwarzem Humor kaum zu überbieten: Die einzige Person, die in der Bilderstrecke zum Stuttgarter Maskenball der weißen Schönen und Reichen (direkt hinter dem wendleresken Beautydoc und seiner kernsanierten Ehefrau) zufällig im Hintergrund mit Tablett und Funkknopf im Ohr als Servicekraft erkennbar ist, ist of Color.

Wo sind die glitzernden Guillotinen?

Was sollen sich da denn bitte, gerade in besonders abgefuckten Zeiten, für andere Assoziationen aufdrängen, wenn nicht die eines antikapitalistischen "Eat-the-rich"-Movies – also einen an die genreprägende Satire "Eat the Rich" von 1987 angelehnten Film, bei dem es darum geht, genussvoll dabei zuzusehen, wie Snobs und andere reiche Arschlöcher ihr Fett wegkriegen. Aktuell etwa wunderbar in der schwarzen Komödie "Triangle of Sadness" von Ruben Östland umgesetzt, in der die Ereignisse auf einer Kreuzfahrt für Superreiche grandios aus dem Ruder laufen. Oder in der Horrorsatire "The Menu" von Mark Mylod, bei der wohlhabende Städter für ein, sagen wir mal besonders exklusives kulinarisches Erlebnis, auf eine einsame Insel fahren. Und dann feiern im beschaulichen Stuttgart, inmitten multipler politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Krisen, in denen Reiche immer reicher werden, irgendwelche weißen C-Promis auf einem Schloss eines despotischen Superreichen einen mystischen Maskenball nach Versailler Vorbild - und niemandem fällt auf, wie grenzenlos verschmockt das alles ist in einer Stadt, die gerne New York wäre, aber dann halt doch geistig im Bierzelt hängen geblieben ist? Wie perfekt diese Bilder zur Vorlage einer sozialkritischen Horrorsatire dienen könnten, der gut im April bei den kommenden "Fantasy Filmfest Nights" im Stuttgarter EM-Kino laufen könnte?

Maskenball in "The Pink Panther".

Oh Gott, Kopfkino: Alleine für die Szene, in dem die städtische Mode-Ikone für gelangweilte, reiche Hausfrauen mit glitzerndem "Nirvana"-Bandshirt unter Tränen vom schwarzen Service-Dude (ist in einer antikapitalistischen Untergrundorganisation und hat sich und weitere Verbündete als Bedienstete ins Schloss eingeschleust) im Schwitzkasten genötigt wird, drei Songs von Nirvana – außer "Smells Like Teen Spirit" – zu nennen ("Name three songs, motherfucker!!!") würd' ich ins Kino gehen! Was wär's bitte für ein geiler Twist, wenn der Sohn des Oberbürgermeisters Teil dieser Untergrundorganisation wäre, der seine guten Manieren und Kontakte spielen lässt, um alle Großbürger:innen der Stadt und ihre Speichellecker:innen an einem Ort zu versammeln, um dann mit einer spektakulären Bühnenansage das Motto der Sause von "Maskenball" in "Französische Revolution" zu ändern, während die Bediensteten des Schlosses glitzernde Guillotinen in den Spiegelsaal rollen und die Mutter des Oberbürgermeistersohns im Close-Up auf Schwäbisch schreit: "Kerle, des verzähl' i 'em Vadder!!" Oh boi, ich würd's so anschauen!


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8 Kommentare verfügbar

  • Jerg Ratgeb
    am 08.04.2023
    Antworten
    Herzlichen Dank für diese – wieder einmal – ganz wunderbare Kolumne.

    Doch wird da allen Ernstes Neid unterstellt. Echt jetzt? Neid auf einen wie Bogen, dessen Text geradezu als Paradebeispiel dafür dienen kann, wie tief man als Vertreter der schreibenden Zunft sinken kann? Neid gar auf dieses im…
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