Spazierengehen ist keine Marotte. Und schon gar kein Kult. Wo "Kult" draufsteht, ist Kacke drin. Gehen, habe ich gehört, sei eine "physische Sinfonie", die nur der Mensch beherrsche. Beim Gehen sind alle Teile deines Körpers harmonisch im Einsatz. Gutes Training, das allerlei Krankheiten vorbeugt. Wer geht, lebt. Verschont von allen Anstrengungen beim aufrechten Gang bleibt nur das Gehirn: die betörende Offerte, dem Denken während des Gehens freien Lauf zu lassen. Damit ich mich aber nicht der Anstiftung zu tödlicher Fahrlässigkeit schuldig mache, empfehle ich, in der Stadt die Gedanken nicht allzu frei fliegen zu lassen. Sie könnten mit der Karre eines fußkranken Herrenfahrers kollidieren.
Seit je habe ich beim Herumgehen Papier und Stift bei mir. Angesichts von Notizblock und Kamera im Taschentelefon ist dies heute durchaus eine Marotte. Ich mache mir Notizen im Glauben, selbst meine nichtssagende Umgebung sei eine Welt magischer Zeichen und könne nur mit nachweislich handgeschriebenen Hieroglyphen gewürdigt werden. Ihre digitale Vereinnahmung wäre ein Verbrechen. Und so kritzle ich, erregt von schwarzer Tinte, in mein schwarzes Din-A-7-Buch: „Bist Du schon Dein bestes Ich?“
Dies steht an einem Fitnessstudio mit elektrischer Muskelstimulation (das ich links liegen lasse, weil ich die Praktiken des Boxers Rocky Balboa in dem Liebesfilm "Rocky" bevorzuge). Ich notiere die Aufschriften städtischer Mülleimer: "Gib's mir", "Ich krieg gern die Gosch voll" … und das mag erklären, warum Rockys Schweinehälften-Methoden meine Fantasie beherrschen. Und mein bestes Ich soll bleiben, wo es noch nie war.
Es gibt auch fröhliche Zeichen. Im Schaufenster des liebenswerten Rockabilly-Ladens "Flaming Star" im Gerberviertel sehe ich eine Kaffeetasse mit aufgedrucktem Herz und der Botschaft: "Krawallschachtel". Krawallschachtel habe ich lange nicht mehr gehört. Klingt heute nicht mehr ganz so cool, ist in meinen Ohren jedoch nicht sexistisch, weil es auf Kandidat:innen aller Geschlechter zutrifft. Seit dem Internet gibt es so viele Krawallschachteln wie noch nie.
Ich gehe durch die Altstadt von Cannstatt, sehe den Zerfall, die stillgelegte Kneipe Ratsstüble in einem 1640/80 gebauten Haus. Nicht weit davon hat gerade die Weinstube Zaiß aus Altersgründen der Wirtsleute dichtgemacht. Kurz vor Schluss bin ich eingekehrt und habe dort diese in Holz gerahmte Lyrik in meinem Buch notiert: "Esset und trinket / so viel euch frommt / dann macht, daß / ihr weiter kommt!"
Menschen und Dinge kommen und gehen und wie die Politik der Stadt Stuttgart mit ihrem Bezirk Cannstatt umgeht, sagt alles über ihre ewige Provinzialität. Mehr als 70.000 Menschen aus aller Welt leben in 18 Cannstatter Stadtteilen. Der Hallschlag gehört dazu, eine Gegend, in der man etwas über Wohnungskämpfe lernen kann, oder Steinhaldenfeld, wo es einen jüdischen Friedhof gibt. Und durch Cannstatt fließt der Neckar. Er wird erst über die Ufer treten müssen, damit die Stuttgarter Rathaus-Hirne die Bedeutung des Flusses für ihre Stadt begreifen. Den Ortsnamen "Bad Cannstatt" verwende ich übrigens nie, weil dem schönen Cannstatt mit seinen einzigartigen Mineralquellen das "Bad" 1933 von den Nazis aufgezwungen wurde.
Es gäbe noch viel zu erzählen aus diesem östlichen Bezirk, der seit 1905 zu Stuttgart gehört. Anscheinend aber reicht es zu wissen, dass sich in Cannstatt der Stuttgarter Verein für Bewegungsspiele in einer Krawallschachtel namens Mercedes-Benz-Arena am Arsch der Bundesliga bewegt.
Geballte Hoffnungslosigkeit vor Stuttgarts Ämtern
Zurück aus Cannstatt im Zentrum komme ich am Museum Hegelhaus, dem kleinen Geburtshaus des Philosophen, vorbei. Es ist Zeit, in der Nachbarschaft das Café Hegel in den Räumen des bisherigen Bäckerei-Cafés Hafendörfer zu besuchen. Ich bestelle Avocado Smash nicht ohne Furcht, wie Hegel an einem Magenleiden zu sterben. Der große Denker, 1770 in Stuttgart geboren, ist gut präsent in der Stadt. Es gibt das Restaurant Hegel 1 am Hegelplatz und eine Hegelstraße im Westen, einen Hegelsaal und das Hegel-Gymnasium in Vaihingen. Nicht zu vergessen Joseph Kosuths einstige Hegel-Installation am zerstörten Bahnhof: "… dass diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist". Und an der Stuttgarter Uni unterrichtet ein von gewissen Kreisen hofierter Hegel-Exeget namens Sebastian Ostritsch, der nach eigenem Bekunden seine "geistliche Heimat" in der reaktionären, rechts durchsetzten Petrusbruderschaft gefunden hat – und damit Gefallen an klerikal-fundamentalistischer Propaganda.
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Peter Grohmann
am 05.04.2023