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Auf der Straße

Tanz den Leo

Auf der Straße: Tanz den Leo
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Dass ich immer noch in einem Kessel namens Stuttgart herumgehe, hat nicht unbedingt mit einem Satz des Dichters Henry David Thoreau zu tun: "Meine Stimmung", heißt es in seinem Essay "Vom Spazieren", "hebt sich stets umso mehr, je größer die Trübseligkeit meiner Umgebung ist." 150 Jahre nach Thoreaus Tod steuert beim Spazieren nicht nur die trübselige Umgebung meine Laune. Weltweit liegt etwas Unglückseliges in der Luft. In dieser Stimmung halte ich immer öfter jede Art Zukunftsplanung für absurd. Ich bin ein Schwarzseher, unfähig, die Dinge mit dem auf der Couch gestählten Seelenpanzer des modernen Kriegshelden abzuwehren. Noch trage ich Stetson statt Stahlhelm, und mir platzt die Hutschnur, wenn Leopards in Medien als Leos verniedlicht werden. Der Krieg begegnet uns medial als Pop, als Mix aus Hollywood und Insta-Selfie. Make War, Love Leo.

Selbst unter Freunden ist es kaum mehr möglich, verletzungsfrei über Waffenlieferungen und Verhandlungen zu diskutieren. Trifft auch Menschen, die nicht grundsätzlich gegen Waffenlieferungen sind, aber Verhandlungswillen vermissen. Wer nicht ohne jeden Zweifel der Propaganda von Gut gegen Böse folgt, gilt als naiv. Als Putins Dackel. Zwischen Militarismus-Kritik und hirnlosem Pazifismus wird kaum noch unterschieden. Das bei uns herrschende Aufrüstungsklima mit seinen begeisterten Festgeklebten ist wie geschaffen für die Kriegswirtschaft.

Medial begegnet uns der Krieg als Pop

Als Spaziergänger mit Hang zu Gedankensprüngen erinnere ich mich, wie ich mir beim Überfall der russischen Armee auf die Ukraine vor einem Jahr reflexartig "Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk" griff und auf Seite 45 diese Zeilen fand: "Und irgendwo in weiter Ferne der Geschichte senkte sich auf Europa die Wahrheit, dass das Morgen die Pläne der Gegenwart zunichte machen werde." Inzwischen, da das Morgen immer unberechenbarer wird, las ich auf Seite 188 etwas, das ich hier aus dem Zusammenhang reiße, weil es mir einen Zusammenhang klarmacht: "Über Schwejk und Oberleutnant Lukasch ballte sich eine Katastrophe zusammen."

Nur ein Naivling wie unsereiner spinnt sich solches Zeug zusammen. Denn der Russe wird ja wie immer verlieren. Atomwaffen sind Attrappen. Demokratie und Freiheit werden wie immer siegen, speziell in den Augen derer, die noch nie einen Fuß auf die Straße gesetzt haben, um demokratische Errungenschaften wenigstens in ihrer Umgebung zu verteidigen. "Streik!", lese ich auf einem Zeitungsaufsteller, "Totengräber wollen mehr Geld". Kämpft tapfer, Freunde! Es gibt viel zu tun.

Meine Trübseligkeit könnte sich bald verschärfen in meiner Umgebung, die mit den international operierenden Spezialkommandos der US-Army in unserer Stadt globale Ausmaße angenommen hat. Ich muss mich dringend therapieren, bevor ich mit gereckter Panzerfaust und der Parole "Ich glaub, ich bin der Leo" in der Geschlossenen lande.

Schon seit Langem hatte ich zu meiner Zerstreuung vor, vom schlimmsten Feind des Fußgängers zu berichten: dem Hundehaufen auf dem Gehweg. Das wäre endlich mal eine positive Weltbetrachtung, denn die Scheiße auf den Straßen ist zuletzt zurückgegangen. Man sieht sie seltener als Ratten. Vielleicht hat das mit den Strafen für Köterkacke zu tun. In Baden-Württemberg kann der animalische Abseilakt bis zu 150 Euro kosten, in Berlin seltsamerweise weniger. Dort habe ich einst als Serien-Tourist den Instinkt entwickelt, Hundehaufen zu umschiffen, noch bevor ich sie rieche. Bis heute erinnere ich mich an die Schlagzeilen Berliner Blätter über unfassbar viele Tonnen Scheiße, die von den Straßen geschaufelt werden mussten. Diese Einblicke waren für mich lebensrettend, als ich später Cowboystiefel mit hohen Absätzen und glatten Ledersohlen trug.

Shit on the Dancefloor

Neben dem Bußgeld hat auch die Tüte zur Hundekot-Entsorgung für Entspannung im Straßenkrieg gesorgt. Das Thema wäre mir allerdings entfallen, hätte nicht neulich der Ballettchef der Staatsoper Hannover eine Kacktüte mit der frischen Hinterlassenschaft seines altersschwachen Dackels Gustav wie eine geladene Kanone gezogen. Die Munition schmierte er einer Kritikern ins Gesicht, worauf die Kunst des Tanztheaters schlagartig weltberühmt wurde. Shit On The Dancefloor.

Zweifellos hätte ich jetzt, da ich die Fäkalienaffäre erwähne, die verdammte Pflicht, mich zu distanzieren. Dank Putin wissen wir: Im Zeitalter der sozialen Medien muss man sich, um nicht selber in Ungnade zu fallen, von jedem Sauhund auch dann öffentlich distanzieren, wenn man nie etwas mit ihm zu tun hatte. Meine geistige Mittäterschaft beim Kotattentat kann ich als professioneller Nichttänzer allerdings dementieren, weil diese Dackelwurst-Nummer mir kleinem Scheißer nie und nimmer eingefallen wäre. Auch deshalb nicht, weil ich keinen Gustav habe und mit all seinen Artgenossen selbst dann auf Kriegsfuß stehe, wenn sie mal nicht das Bein heben. Den besten Kommentar zum deutschen Hundestuhl-Choreografen schrieb übrigens ein migrationserfahrener Mensch auf Facebook: "Liegt offensichtlich an seinem kulturellen und religiösen Hintergrund."

Das Stichwort "Mittäterschaft" war in meinem getrübten Bewusstsein sicher mit ein Grund, den Stadtteil Sillenbuch heimzusuchen, einen sozialen Brennpunkt. Was in Sillenbuch lichterloh brennt, ist der sichtbare Ehrgeiz, den weltweit gepflegtesten Garten vor dem Eigenheim zu präsentieren.

Versteckt: Gedenken an Fritz Bauer

In der Nähe der Haltestelle Silberwald, in gut bürgerlicher Abgeschiedenheit, ist die Fritz-Bauer-Straße. Die wurde 2010 so benannt und auf ihrem Schild mit dem Hinweis "Generalstaatsanwalt zur Aufklärung von Nazi-Verbrechen" bedruckt. 1937 hatten die Nazis diese kaum 200 Schritte kurze Straße dem antisemitischen Historiker Heinrich Gotthard von Treitschke (1834 bis 1896) gewidmet. Dem großen demokratischen Aufklärer Fritz Bauer wurde erst 2003, 35 Jahre nach seinem Tod, ein versteckter Fußweg mit beachtlicher Fallhöhe am Bopser gegönnt (und 2010 umbenannt).

Mein Ausflug nach Sillenbuch, wo einst Clara Zetkin wohnte und heute das links befruchtete Waldheim ihren Namen trägt, war fällig, nachdem ich im Kino den Dokumentarfilm "Fritz Bauers Erbe" gesehen hatte. Eine sehr gut verständliche, von keiner empörten Pädagogik getrübte Auseinandersetzung mit der deutschen Justiz. Die hatte bis vor wenigen Jahren kein Interesse, noch lebendes Nazi-Personal wegen Beihilfe zu Mord zu bestrafen. In der freiheitlich-demokratischen Republik wurde zur Rechenschaft nur gezogen, wer in der industriellen Mordmaschinerie zur Massenvernichtung von Menschen eine detailliert nachweisbare Tat begangen hatte. Der Rest wusste von nichts und marschierte samt seiner geistigen Erben munter in die Zukunft.

Fritz Bauer, in den frühen 1960ern Wegbereiter des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, hat vergeblich versucht, seine Rädchen-Theorie durchzusetzen, wonach der Strafbestand der Beihilfe zum Massenmord auch ohne individuellen Nachweis einer Tat bestehe. In den vergangenen Jahren wurde der Jurist in mehreren Spiel- und Dokumentarfilmen gewürdigt. Stuttgart hat ihm neben dem Sillenbucher Sträßchen 2012 einen Vortragssaal im Amtsgericht zugestanden. Diese Art Ehrung im Abseits sagt alles über den Umgang mit einem Menschen, dessen aufopferungsvoller Kampf gegen Faschismus und Geschichtsklitterung bis in unsere Zeit hineinwirkt. "Fritz Bauers Erbe" ist ein Beispiel dafür, was Erinnerungsarbeit für die Gegenwart leisten kann, wenn die Vergangenheit nicht als vergangen abgehakt und vertuscht wird. Geboren wurde Fritz Bauer am 16. Juli 1903 in Stuttgart. Vielleicht lässt sich zu seinem 120. Geburtstag was machen in dieser Stadt.

Damit bin ich am Ende und der Hanns-Guck-in-die-Luft in einer trübseligen Umgebung, die beim Blick auf das Morgen meine Bombenstimmung hebt.


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3 Kommentare verfügbar

  • D. Hartmann
    am 01.03.2023
    Antworten
    Sehr geehrter Herr Murawski,

    wie viele sind für Sie „viele Menschen“?
    Mir hat ein Blick in Google Maps gereicht, um festzustellen, dass in dieser Straße keinesfalls viele Menschen (nach meinem Verständnis für „viele“) wohnen.

    Außerdem tragen Privatadressen im Zeitalter der elektronischen…
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