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Auf der Straße

Die Welt im Eimer

Auf der Straße: Die Welt im Eimer
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Am Mittag ging ich in den Neujahrstag hinein, am Straßenrand sah ich Böllermüll und Stiefmütterchen, die in der Januar-Wärme nichts zu befürchten schienen. Seit einem Vierteljahrhundert spaziere ich durch die Straßen mit dem Ziel, unterwegs genügend Abfall für eine Kolumne aufzulesen. Bei dieser fragwürdigen Tätigkeit mache ich mir öfter mal Sorgen um meine Psyche. Meine Art des Spazierengehens endet so gut wie nie entspannt, weil ich ständig nach Dingen Ausschau halte, die sich verwerten und zurechtbiegen lassen. Wissenschaftlich betrachtet, bewege ich mich womöglich nahe am Krankheitsbild der gelockerten Assoziationen, auch assoziative Lockerung genannt. Diese Begriffe beschreiben Denkstörungen, beispielsweise absonderliche Gedankensprünge.

Bei lauwarmem Wetter nahm ich Kurs auf den Osten, und weil ich Hunger hatte und in der Hackstraße war, bekam ich Appetit auf Burger, obwohl ich selten Burger esse. Tatsächlich ist die Hackstraße Herrn Friedrich Hack gewidmet; er war einst Professor für Nationalökonomie in Tübingen und von 1872 bis 1892 Oberbürgermeister von Stuttgart. Aber Hackstraße ohne Friedrich klingt nun mal nach Hack.

Ich landete dann nicht in einer Klops-Bude, sondern in einem indischen Lokal mit betörendem Bollywood-Ambiente samt buntem Weihnachtsbaum. Zuvor hatte ich in der Nachbarschaft einen Einkaufsladen namens Aryana bewundert, der neben afrikanischen, arabischen, indischen und pakistanischen sogar deutsche Spezialitäten feilbietet. Weltläufiger geht's nicht.

Peacenik mit gelockerten Assoziationen

Schwer verdaulich, wenn einen Assoziationsgestörten die Hackstraße an das Thema Oberbürgermeister erinnert. Der aktuell amtierende von Stuttgart hat sich wundersamerweise noch keine Straße, sondern nur ein temporäres Riesenrad gewidmet – und zum Jahresanfang auf Facebook zehn "wichtige OB-Aktivitäten und Initiativen im Jahr 2022" verewigt. Ich lese solche Sachen ganz gern, sie sind lustig. Nummer eins seiner Top Ten lautet: "Stuttgart hat im Unterschied zu anderen deutschen Großstädten eine friedliche Silvesternacht erlebt – dank eines guten Sicherheitskonzepts und starken Einsatzes von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdiensten." Warum eine friedliche Nacht des "starken Einsatzes" von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdiensten bedarf, erschließt sich mir nicht zwingend, aber ich bin auch nur ein Peacenik mit gelockerten Assoziationen, also einem Sprung in der Schüssel.

Auf Nummer zwei seiner Top Ten setzte der OB den Beschluss der "von mir vorgeschlagenen Waffenverbotszone". Diese Maßnahme wird mich kaum dazu bewegen, meinen Revolvergürtel abzulegen. Offiziell geht es vor allem um Messer, deren Klingen nicht nur zum Zweck der Pediküre geschmiedet wurden. Die Polizei wird künftig internationale Menschen kontrollieren, die für Profiling-Nasen nach Messer und Mitesser riechen. Sehr begeistert war unsereiner übrigens von dem Messerartisten Giacomo Sterza, der seine Frau Elena Busnelli im Stuttgarter Weltweihnachtscircus beängstigend hautnah bewirft, ohne sie ein einziges Mal zu verletzen. Life is knife.

Ich denke, dass ich bis hierher genügend Dinge aufgezählt habe, die beweisen, wie aufregend Stuttgart ist. Eine Metropole, deren eingeborene Hipster bis heute unter dem Image schwäbischer Behäbigkeit und Backnanger Dörflichkeit leiden. In Wahrheit gärt in unserer deutschen Weltstadt seit je etwas Banditenhaftes und Rebellisches. Deshalb irritiert es etwas, wenn "der Schwabe" bis heute auf einen Schnarcher reduziert wird, der Häusle und Mercedes putzt, sich mit "Gut's Nächtle" hinter frühzeitig hochgeklappten Bordsteinen verkriecht und noch während des Orgasmus "Sodele" sabbert.

Georg Herwegh – Ikone der Poesie und Revolution

Könnte daran liegen, dass die heimische Politik lange genug alles getan hat, um den Geist des Widerspenstigen zu vertuschen. Und die Besen- und Feudel-Folklore bis heute hochgehalten wird. "Die Kehrwoche ist auf jeden Fall eine der besten Erfindungen aus Stuttgart", verbreitete unlängst die Landtagspräsidentin Muhterem Aras auf Instagram. Putzen ermögliche vielfältige Kontakte, sorge für Zusammenhalt und so weiter. Wer das versteht, weiß Bescheid: Die Welt ist im Eimer. Das ist Integration auf höchster Ebene. Was aber soll ich machen, wenn ich die nicht rechtzeitig abgeholten gelben Säcke vor meiner Haustür nicht mit Frau Saubermann, sondern mit Herrn Herwegh assoziiere: "Mann der Arbeit, aufgewacht! / Und erkenne deine Macht! / Alle Räder stehen still, / Wenn dein starker Arm es will."

Wie gesagt, ich stiefele rechtzeitig mit dem richtigen Bewusstsein in 2023 hinein, in eine historische Zeit, weil vor 175 Jahren die 1848er Revolution losbrach und scheiterte. Ohne diese Aufstände wüssten wir heute noch weniger als ohnehin über demokratische Grundrechte, die wir neben Messerverbotszonen und Kehrwisch-Kontakten haben. Fürs Jubiläumsgeschäft sind schon einige Fachbücher erschienen, und ich habe mich in eins vertieft, das auf 553 Seiten die Ereignisse so präzise, anschaulich und spannend schildert, dass es für eine TV-Serie taugen würde: Jörg Bongs Buch "Die Flamme der Freiheit. Die deutsche Revolution 1848/49" (Kiepenheuer & Witsch).

Einer der größten Helden der Revolution war neben dem badischen Anführer Friedrich Hecker der ungemein erfolgreiche, 1817 als Sohn eines Gastwirts in Stuttgart geborene Dichter Georg Herwegh – nicht weniger bedeutend seine couragierte, emanzipierte Frau Emma. Dem Mann immerhin begegnest du als Spaziergänger im westlichen Stadtteil Vogelsang in der Herweghstraße, schon 1904 zu Monarchiezeiten so benannt. Und wer in der Friedrichstraße in Bahnhofsnähe genau hinschaut, findet am Firmengebäude Nummer 10 eine kleine Tafel zur Erinnerung an die Ikone der Poesie und Revolution. Hier hat er mal gewohnt. Zu Lebzeiten war er "berühmt, ja mehr noch: berühmt-berüchtigt. Er war der deutsche Star 1841, der Buhmann des Jahres 1848. Vertauschte die Feder mit dem Schwert. Ein demokratischer Don Quijote. Rettete sich im letzten Moment", schreibt Ulrich Enzensberger in seinem Buch "Herwegh – Ein Heldenleben".

Seine Papageien krächzten die Parole "Hecker hoch!"

Wie sich alles abspielte, schildert Jörg Bong in seinem Werk: Nach den niedergeschlagenen Aufständen "beginnt eine Hetzjagd, Flucht in kleinen Gruppen, Emma und Georg, das mondäne Revolutionspaar, ganz allein auf sich gestellt". 4.000 Gulden Belohnung sind auf Herweghs Kopf ausgesetzt: "Eine gigantische Summe, ein Heizer bei der Eisenbahn müsste dafür mehr als zehn Jahre arbeiten." Die Flucht gelingt dem Paar, als Bauern verkleidet. Herwegh stirbt 1875 in Lichtental/Baden-Baden, begraben wird der Bismarck-Feind auf seinen Wunsch in der Schweiz, in "freier republikanischer Erde".

Es gab zigtausende badische & württembergische Charakterköpfe, die sich todesmutig in den demokratischen Freiheitskampf gegen die Unterdrücker stürzten und dafür mit Kerker, Emigration oder ihrem Leben bezahlten.

Glimpflich davon kam ein Stuttgarter Wirt, der als "Affenwerner" in die Geschichte einging. Eine Grabplatte mit diesem Namen liegt heute auf dem Fangelsbachfriedhof. Gustav Friedrich Werner hatte ein Gasthaus in der Sophienstraße und gründete in seinem Garten Stuttgarts ersten Zoo. Ohne die Fürsprache eines höfischen Stammgastes wäre er im berüchtigten Knast Hohenasperg gelandet, weil er in den revolutionären Tagen seine Papageien die Parole "Hecker hoch!" krächzen ließ. Den Soldaten in der Stadt wurde deshalb befohlen, um sein Gasthaus einen zu Bogen machen.

Heute wäre ich froh um jede Kneipe, in der irgendwer krächzt, dass der Kampf um demokratische Rechte Tag für Tag geführt werden muss. Auch wenn die Papageien der herrschenden Politik heute lieber den Schnabel halten.


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