Das war's, erklärt der Fotograf den zwei Dutzend Nackten mit Mundschutz, die vor ihm auf Baumstümpfen und auf dürrem Reisig stehen. Verloren und verletzlich. Klick! Ein Foto, mehr brauche er nicht von den Nackten auf der Kahlfläche, sagt Andreas Reiner und stapft über totes Geäst. Das war's. Aber umso mehr Zeit benötigte er für die Vorbereitung. Schließlich musste er nicht nur die dazu taugliche Waldfläche, Opfer von Dürre und dem Borkenkäfer, ausfindig machen und die Nudisten finden, sondern auch noch einen Flügel schadlos in die Wüstenei bringen. An dem spielt Dirk Maassen mit dem Rücken zum Fotografen seine Komposition "Muse", hörbar für die Frauen und Männer, die nackt vor ihm stehen und den zarten Klängen nachfühlen sollen, fordert der Fotograf sie auf. Andreas Reiner kniet hinter einem niedrigen Stativ, blickt durch den Sucher. Klick! Das war's.
Die Szenerie soll die Verletzlichkeit von Natur und Mensch zeigen, erklärt der Fotokünstler, und Müllers Film "Schattenkind" beginnt damit. 90 Minuten über das "andere Leben" des Fotografen Andreas Reiner. 90 Minuten über mehr als 50 Jahre Leben, das anders verlief als der gewöhnliche Fluss des Lebens. Andreas Reiner war ganz unten, bevor er lernte, seiner Begabung zu vertrauen. Die rettete ihm vermutlich das Leben, denn die Fotografie ist längst nicht nur Beruf und auch mehr als Berufung, sie ist professionelle Therapie.
Er fühlt sich als "Schattenkind"
Geboren im Revolutionsjahr 1968 in dem kleinen Dorf Wangen bei Göppingen über der Alb schien alles gerichtet für ein geordnetes, wohlhabendes Leben fernab umstürzlerischer Umtriebe. Sein Vater, Schlosser von Beruf, wird Unternehmer und Teilhaber des Wirtschaftswunders, seine Maschinen verkauft er international und obwohl er geschäftlich viel unterwegs ist, mischt er auch kräftig in der Kommunalpolitik und in Vereinen mit. Er ist überall, nur nicht zuhause. Seinen Vater habe er "nur von hinten gesehen", erzählt Reiner. Als Nachzügler mit zwei älteren Geschwistern fühlt er sich allein gelassen, nicht gewollt. Ein "Schattenkind", als solches habe er sich "schon immer gefühlt". Dann stirbt 1983 sein Vater im Urlaub an einem Herzinfarkt. Mit 15 ist Andreas Halb- mit 20 Vollwaise. Seine Mutter verkraftet den Tod ihres Mannes nicht. Das Unternehmen geht pleite. Die Mutter wird depressiv, versucht sich zu erhängen, und wird von ihrem jüngsten Sohn in letzter Sekunde gerettet. Sie nimmt Tabletten, Andreas findet seine Mutter noch einmal rechtzeitig, dann wirft sie sich 1989 vor den Zug. Das war's. Andreas bleibt allein zurück in einem Haus, vor dem er sich fürchtete, weil er Angst hatte, nach Hause zu kommen und seine Mutter tot zu finden.
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Angelika Stoneham
am 13.09.2024