KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Fotograf Andreas Reiner

Das andere Leben

Fotograf Andreas Reiner: Das andere Leben
|

Datum:

Jo Müllers Film über Andreas Reiner, Fotograf aus Oberschwaben, erhielt bei den Hofer Filmtagen den Preis als bester Dokumentarfilm. Worüber der 54-jährige Hauptdarsteller in Tränen ausbrach. Sein Weg kostete Kraft, aber er weiß: Er ist angekommen. Ein Hausbesuch.

Das war's, erklärt der Fotograf den zwei Dutzend Nackten mit Mundschutz, die vor ihm auf Baumstümpfen und auf dürrem Reisig stehen. Verloren und verletzlich. Klick! Ein Foto, mehr brauche er nicht von den Nackten auf der Kahlfläche, sagt Andreas Reiner und stapft über totes Geäst. Das war's. Aber umso mehr Zeit benötigte er für die Vorbereitung. Schließlich musste er nicht nur die dazu taugliche Waldfläche, Opfer von Dürre und dem Borkenkäfer, ausfindig machen und die Nudisten finden, sondern auch noch einen Flügel schadlos in die Wüstenei bringen. An dem spielt Dirk Maassen mit dem Rücken zum Fotografen seine Komposition "Muse", hörbar für die Frauen und Männer, die nackt vor ihm stehen und den zarten Klängen nachfühlen sollen, fordert der Fotograf sie auf. Andreas Reiner kniet hinter einem niedrigen Stativ, blickt durch den Sucher. Klick! Das war's.

Die Szenerie soll die Verletzlichkeit von Natur und Mensch zeigen, erklärt der Fotokünstler, und Müllers Film "Schattenkind" beginnt damit. 90 Minuten über das "andere Leben" des Fotografen Andreas Reiner. 90 Minuten über mehr als 50 Jahre Leben, das anders verlief als der gewöhnliche Fluss des Lebens. Andreas Reiner war ganz unten, bevor er lernte, seiner Begabung zu vertrauen. Die rettete ihm vermutlich das Leben, denn die Fotografie ist längst nicht nur Beruf und auch mehr als Berufung, sie ist professionelle Therapie.

Er fühlt sich als "Schattenkind"

Geboren im Revolutionsjahr 1968 in dem kleinen Dorf Wangen bei Göppingen über der Alb schien alles gerichtet für ein geordnetes, wohlhabendes Leben fernab umstürzlerischer Umtriebe. Sein Vater, Schlosser von Beruf, wird Unternehmer und Teilhaber des Wirtschaftswunders, seine Maschinen verkauft er international und obwohl er geschäftlich viel unterwegs ist, mischt er auch kräftig in der Kommunalpolitik und in Vereinen mit. Er ist überall, nur nicht zuhause. Seinen Vater habe er "nur von hinten gesehen", erzählt Reiner. Als Nachzügler mit zwei älteren Geschwistern fühlt er sich allein gelassen, nicht gewollt. Ein "Schattenkind", als solches habe er sich "schon immer gefühlt". Dann stirbt 1983 sein Vater im Urlaub an einem Herzinfarkt. Mit 15 ist Andreas Halb- mit 20 Vollwaise. Seine Mutter verkraftet den Tod ihres Mannes nicht. Das Unternehmen geht pleite. Die Mutter wird depressiv, versucht sich zu erhängen, und wird von ihrem jüngsten Sohn in letzter Sekunde gerettet. Sie nimmt Tabletten, Andreas findet seine Mutter noch einmal rechtzeitig, dann wirft sie sich 1989 vor den Zug. Das war's. Andreas bleibt allein zurück in einem Haus, vor dem er sich fürchtete, weil er Angst hatte, nach Hause zu kommen und seine Mutter tot zu finden.

In Biberach abgelehnt

Nachdem "Schattenkind" im Oktober letzten Jahres bei den Hofer Filmtagen als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde, geht die 90-minütige Dokumentation über das "andere Leben" des Fotografen Andreas Reiner nun auf Tour. Kuriosität am Rande: Der Film wurde auch bei den Biberacher Filmfestspielen als Wettbewerbsbeitrag eingereicht – und abgelehnt. Nun wird der ausgezeichnete Dokumentarfilm am 18. Februar auch im Biberacher "Traumpalast" zu sehen sein. Von Vorteil ist, wenn man schwäbisch versteht, die Sprache des Hauptdarstellers.

"Schattenkind" läuft demnächst unter anderem hier:
17. Januar Stuttgart: Atelier am Bollwerk,
26. Januar Ulm: Cineplex,
27. Januar Weingarten: Linse,
28. Januar Riedlingen: Lichtspielhaus.

Andreas Reiner kennt seine Schmerzpunkte und erzählt darüber auch in der Dokumentation. Das erfahrene Leid treibt ihm immer noch die Tränen in die Augen. Dann schnieft und schnäuzt sich der große Kerl, wischt sich die Augen und die Nase. Der Harley-Davidson-Fan mit Glatze und vollem Bart könnte jederzeit den Boss einer Rocker-Gang mimen. Seine Optik erinnert an seine Vergangenheit, als er noch Schläger war. Er sei "kein Guter" gewesen, erzählt er im Film, und die Erinnerung schmerzt noch immer. Verlassen, haltlos, hilflos, aggressiv. Das ist Reiners Leben trotz Lehre und Meister als Zimmermann. Es fehlt ihm das Vertrauen, eine Kurzzeitehe ist die Folge, und mit seiner schwangeren Frau verlässt ihn auch der noch ungeborene Sohn. Verlust allenthalben. Er ist stigmatisiert. Er habe "super Trompete gespielt", aber der Musikverein wollte ihn nicht, erzählt Reiner. Er ist am Ende, lebt ohne Strom, Heizung und Auto von Hartz IV und stemmt sich gegen das Schicksal seiner Mutter. Die Psychiatrie, in die er sich schließlich als suizidgefährdet flüchtet, ist seine Rettung.

Die Fotografie ist eher Zufall

Zwei Jahre verbringt er in Königsfeld im Schwarzwald. Ein heilsamer Aufenthalt. Man kümmert sich um ihn. Er erfährt Aufmerksamkeit, ist also wichtig genug. Es wächst Vertrauen – auch zu sich. Und er lernt, mit seinen Problemen umzugehen. Statt Schlägereien viel Gefühlsarbeit eben.

Mit 37 Jahren beginnt er schließlich eine Umschulung zum Fotografen. Es ist nicht die große Sehnsucht, sondern der pragmatische Ratschlag des Arbeitsberaters. Der führt ihn nach Biberach zur Ausbildung. Und der Lehrling begibt sich auf den fotografischen Weg, dem er treu bleibt: Statt Folklore – die auch sein muss – fotografiert er als "Hausaufgabe" den Tod in einem Hospiz und sieht, was er kann.

Es sind die besonderen Themen, die besonderen Menschen, der besondere Zugang, der besondere Blick, was seine Fotografie auszeichnet. Es sind Menschen in sozialen Nischen und No-go-areas, die er mit viel Gefühl sichtbar macht, meist schwarz-weiß mit vielen Grautönen. "SichtlichMensch" heißt seine Agentur, mit der er sich 2003 selbstständig macht. 2012 zieht er von Biberach in den Weiler Galmutshöfen bei Warthausen in einen alten Bauernhof, er richtet sich notdürftig ein und stellt fortan auch seine Bilder in der Scheune aus. Für Besucher ist festes Schuhwerk ratsam.

Krankheit, Alter, Not und Tod sind Themen, die in einer selbstoptimierten Gesellschaft ausgeblendet werden. Andreas Reiner sucht sie, nähert sich respektvoll, aber unverkrampft, so findet er die Menschen und deren Vertrauen. Das ist das Wichtigste: Vertrauen! Es war seine große Leerstelle, unter der er unsäglich litt, die sein Leben prägte – bis er sie zu füllen verstand: Indem er Menschen seine ganze Aufmerksamkeit schenkt, sich ihrer uneingenommen widmet, schenken sie ihm Vertrauen. Vertrauen schafft Authentizität, Authentizität braucht Vertrauen. Der Fotograf zeigt es in seinen Bildern.

Würde entsteht mit Vertrauen

Sterbende im Hospiz, Tode im Sarg, trauernde Hinterbliebene, Frauen, die ihr Kind verloren haben, Frauen mit Brustkrebs, aber auch fröhliche Nonnen – einfach "göttlich" – und ausgelassene Behinderte, die sich gegenseitig und sich selbst fotografieren. "Gesicht zeigen", heißt die Serie, die bundesweit in vielen Ausstellungen gezeigt wird, so auch 2013 auf dem evangelischen Kirchentag in Hamburg. Allen Fotos ist gemeinsam: Würde ist das Gegenteil von Bloßstellen. Andreas Reiner zeigt die Würde. Eine stark übergewichtige Frau erklärt im Film, warum sie sich fast nackt von Reiner fotografieren lässt: "Fotografieren kann jeder, aber eben nicht so."

Es herrscht das Virus. Lockdown! Nichts geht mehr. Die Geschäfte und Wirtschaften haben geschlossen. Andreas Reiner nimmt es zur Kenntnis und beschließt beim Frühstückskaffee, das unglaubliche Geschehen zu dokumentieren. Seine Social-Media-Kanäle funktionieren gut. Er findet problemlos und schnell Wirtinnen und Wirte, die sich in ihren leeren und aufgeräumten Gaststuben fotografieren lassen. Ratlos, was sie tun können und bereit, wenn es weiter geht. Aber es herrscht sichtbare Stille, wo sonst das volle Leben dröhnt. "Stille Leere" heißt die Serie, mit der Andreas Reiner den Lockdown dokumentiert, indem er die ratlosen Wirtsleute in ihrer Betroffenheit zeigt. Das beeindruckende Zeitdokument findet am 22. April 2020 prominente Erwähnung in den Tagesthemen. Und es folgen Aufträge. Denn so bescheiden der Fotokünstler auch in seinem altersschwachen Bauernhof in der Mitte des kleinen Dorfes gemeinsam mit Ochse Anton, Kuh Lore und Bernhardinerhündin Pauline lebt: Ohne Moos nichts los! Aber wichtiger als der schnöde Mammon ist Andreas Reiner, dass er tut, was er kann, indem er – das "Schattenkind" mit dem besonderen Blick – sich treu bleibt. Und ebenso wichtig: Endlich fühlt er sich angekommen. "Ich werde hier sterben", erklärt der 54-Jährige zufrieden in seiner ofenwarmen Küche unterm Kruzifix.


Der Artikel erschien erstmals am 27. Dezember 2022 in "Blix".


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!