KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Harry Walters "Bilder knistern"

Die Lupe souffliert

Harry Walters "Bilder knistern": Die Lupe souffliert
|

Datum:

Wilhelminische Pudelpatriarchen, beschwipste Damenkränzchen oder ein kleiner Bub, der sich in der vom Vater modellierten Welt nicht einfinden mag: Der Stuttgarter Künstler Harry Walter hat 24 Foto-Essays verfasst, die zugleich Liebeserklärung an und Parodie auf den Vorgang des Deutens sind. Ein Buchauszug mit redaktioneller Einleitung.

Die "etwas neurotische Art", Bilder mit einer Lupe zu inspizieren, hat Harry Walter schon am Ende der Kindheit entwickelt: Als der wortkarge Vater einen Karton voll mit rätselhaften Photographien hinterließ, deren Botschaften der musternde Geist sogar dort auf die Schliche gekommen ist, wo vielleicht gar keine versteckt waren. Er selbst ist ein Leben lang kamerascheu geblieben, sagt er, und auf alten Schwarz-weiß-Aufnahmen mit der Zwillingsschwester sei sein Kopf nicht selten der dunklere gewesen – wegen der Schamesröte.

Bildfäden

Im noch jungen Schlaufen-Verlag, der 2022 die ersten Bücher veröffentlicht hat, erscheint die Serie "Bildfäden" mit Essays, die von Bildern ausgehen. Dazu kommentiert der Verlag: "Jeder Text entwickelt einen Bildfaden, der eingewebt ist in die Wirklichkeiten, in denen wir leben, geht ihm nach und spinnt ihn weiter." Neben Harry Walters "Bilder knistern" ist dort auch Frank Witzels "Kunst als Indiz" erschienen. Weitere Veröffentlichungen sind geplant. (min)

Als Künstler, Autor, Tapeten- und Teppich-Experte mit Vorliebe für genreübergreifende Crossover tritt Walter nur selten als er selbst auf, hantiert mit Pseudonymen oder bringt sich in Projekte ein, die einen Gruppennamen für sich sprechen lassen: zum Beispiel beim Begleitbüro Soup, das Stuttgarter Observatorium urbaner Phänomene, das dem Attrappencharakter von Architektur nachgeht oder die Abgründe obsessiver Weltmodelle ausforscht. Zu erkennen gibt sich Walter allerdings als Verfasser einer Reihe von "Prosatexten mit essayistischem Zungenschlag", die fotografischen Zufallsfunden unterschiedliche Facetten von Allgemeingültigkeit abringen wollen: 24 Miniaturen, allesamt Ausnahmen, sodass sich jede einzelne gleich schlecht eignet, ein repräsentatives Bild zu zeichnen.

Geschöpft hat Walter, Jahrgang 1953, dabei aus einem über Jahrzehnte zusammengetragenen Fundus. In den sind prall gefüllte Schuhkartons voller Bilder ebenso eingeflossen wie aufgegebene Fotoalben, die er "aus Mitleid mit dem damen- und herrenlosen Material" auf Ebay ersteigert hat. Vielleicht eine von 500 Aufnahmen und wahrscheinlich noch weniger haben ihn dann, nach akribischer Begutachtung, inspiriert, einen Text dazu zu dichten. Die ausgewählten Schnappschüsse eint – bis auf ein oder zwei Ausnahmen –, dass "der Erzählfaden abgerissen ist", also nicht mehr mit Sicherheit gesagt werden kann, wer da eigentlich bei was zu sehen ist.

Doch wo Leerstellen bleiben, ist Raum für Deutung: etwa, wem aus dem beschwipsten Damenkränzchen die nähere Zukunft gehört, was den armen Bub an der vom Vater vollendet gestalteten Modelleisenbahnwelt verzweifeln lässt oder wieso zwei Damen einem "in der Pose wilhelminischer Selbstüberschätzung" erstarrten Pudel die Rolle des Familienoberhaupts zugewiesen haben.

Am Schreibtisch, sagt Walter grinsend beim Redaktionsbesuch, saß er wie an einem Mischpult: Wenn es einmal zu tiefgründig wurde, musste er die Ironie hochschrauben, sorgsam darauf bedacht, dass es nicht ins Alberne abdriftet. Walter, der unter anderem an der japanischen Universität Kanazawa Deutsch unterrichtet hat und viele Jahre als Lehrkraft an der Hochschule für Kunsttherapie in Nürtingen wirkte, warnt davor, dass es im Publikum immer Leute geben könnte, die einen Bluff durchschauen, erst recht, wenn es ein anspruchsvolles ist.

Ursprünglich angefertigt hat er seine Stücke für die Fotokolumne eines renommierten Magazins, wo sie von 2016 bis 2017 erschienen sind. Schon über die Erstveröffentlichung in der bekannten Bleiwüste namens "Merkur" schreibt Herausgeber Christian Demand: "Dass die Fotos aus Kostengründen ausschließlich schwarz/weiß gedruckt werden konnten, Farbwerte also grundsätzlich unter den Tisch fallen mussten, war einerseits misslich, sorgte andererseits aber auch dafür, dass die Text-Bild-Strecke im eindeutig typografisch dominierten Gesamtbild der Zeitschrift nicht als Fremdkörper wahrgenommen wurde." Und nun, in der gesammelten Schau der 24 Stücke, ermuntert die auf dem Werkpapier des Schlaufen-Verlags gegen das Absaufen ankämpfende Druckqualität der Bilder, bei der Betrachtung selbst zur Lupe zu greifen.

Vermutlich hat es dem Verfasser einigen Genuss bereitet, mit halbzuverlässiger Regelmäßigkeit die banalste Stelle in einem Text kursiv hervorzuheben, um vom Tiefsinn, der zwei Zeilen später lauert, abzulenken. Wo strapaziertes Schnaufen vorherrscht, weil den heutigen Lesegewohnheiten schon eine SMS-Länge als Drohung erscheint, sieht Walter die Zukunft der Schriftkultur in sprachlichen Brühwürfeln: also Konzentraten, die "den Spieß umdrehen und zeigen, dass solche Kurzformen nicht nur trivial und dispersiv, sondern durchaus auch 'dicht' sein können".

Ganz in diesem Geiste zeigt auch Kontext den Beitrag, mit dem die zusammenhangslose Serie ihren Anfang nahm.

Buchauszug: "Prosit"

Von Harry Walter

Fotos werden gemacht, um einen Augenblick für die Nachwelt festzuhalten. Die Nachwelt ist jedoch keine genaue Adresse, und der fotografierte Augenblick hat keine eindeutige Botschaft. Reißt der Erzählfaden ab, sagt also niemand mehr das ist der, die oder das, verlieren die meisten Fotos auf einen Schlag ihren Inhalt – oder aber sie entwickeln, nachdem der biografische Dampf abgelassen ist, aus zumeist unerfindlichen Gründen ein Eigenleben und füllen sich auf mit allem, was die Neugier an sie heranträgt. Dann fangen sie an zu knistern und irgendwie von sich selber zu handeln, also nicht mehr nur bloß von dem, was drauf ist, sondern immer auch von der Tatsache, dass sie Fotografien sind.

Das beschwipste Damenkränzchen bietet dem Kameraauge – und damit uns – ein Panoptikum aus der Fassung geratener beziehungsweise dagegen ankämpfender Blicke. Einige der acht Frauen haben direktestmöglichen Kontakt aufgenommen mit dem Fotoapparat; mit ihren aufgerissenen Augen scheinen sie sich förmlich hineinbohren zu wollen in eine Zukunft, aus der dann rückwirkend auf das Glück dieses Augenblicks geschlossen werden soll; sie tun alles, um die likörgeschwängerte, von der Anwesenheit einer Kamera natürlich noch zusätzlich verstärkte Stimmung so unmittelbar wie möglich an die Nachwelt zu übertragen. Anderen gelingt es, einigermaßen Contenance zu wahren und sich irgendwie auf sich selber zu besinnen – oder zumindest so zu tun, als sei Fotografiertwerden mit der Pflicht zur Zurückhaltung verbunden.

Insbesondere die sich mit einer blumengefüllten Vase gegen alle Albernheiten verwahren wollende Frau hinten links scheint mit ausgekugelten Augen und dem, was sie ausstrahlen, wenig anfangen zu können. Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass sie mit ihrer vasenfreien linken Hand den Unterarm ihrer Nachbarin umgreift, als wollte sie diese davon abhalten, noch tiefer ins Glas zu schauen; oder als suchte sie ganz einfach Halt inmitten des leicht in Schräglage geratenen Stimmungsdampfers. Ihr Griff zur Vase bleibt dennoch rätselhaft. Möglich, dass sie damit etwas unmissverständlich Schönes ins Bild integrieren wollte, um so an die traditionelle, zu jener Zeit gehörig ins Wanken geratene Rolle der Frau zu erinnern. Von einer mit Blumen gefüllten Vase geht ja in jedem Fall etwas Versöhnliches aus; so in die Luft gehalten, mit der Unterkante leicht auf den hölzernen Rand des Sofas aufgesetzt, könnte sie der direkt unter einer in Öl gemalten Wildschweinszene stehenden Frau signalisieren, dass rollende Augen angesichts dieser Blumenoffensive ganz besonders unschicklich sind. Das sich in den Pupillen spiegelnde Blitzlicht hat natürlich wesentlichen Anteil an der Herausmodellierung dieser ausdrucksstarken Körperlandschaft, obwohl der von dem Blitz ausgelöste Schreckmoment selbst im Bild nicht festgehalten ist, da der Körper hierfür zu träge reagiert.

Je mehr man sich in die Details dieser Fotografie vertieft, desto deutlicher tritt das seltsame Tapetenmuster hervor, dessen Motiv aus einer Klecksografie hervorgegangen zu sein scheint und in seinem monotonen Rapport den äußersten Gegensatz bildet zu der im Raum selbst vorherrschenden Thermik. Im Wärmestrom der nach oben abziehenden Gefühle hat sich eine Art Glocke gebildet, die es den Anwesenden leicht macht, sich unter ihr zu versammeln und als ein Ganzes zu erscheinen. Die Verwandlung der Tischgesellschaft in eine Menschentraube wäre allerdings ohne die Anwesenheit einer Kamera nicht möglich gewesen. Die zusammengesteckten Köpfe wissen, dass ein Fotoalbum das Leben auf wenige Höhepunkte reduzieren wird – und es noch immer am besten ist, wenn diese aus guter Laune bestehen. Das richtige Leben findet sowieso immer im falschen statt. Darauf anzustoßen, ist erste Bürgerpflicht.

In den abstrakt bis spätkubistisch gemusterten Kleidern ist die Moderne so unübersehbar deutlich angekommen, dass man sich fragt, wie das alles zusammenpasst mit dem, was draußen auf der Straße in jenen Jahren an völkischer Gesinnung sich zusammengebraut hat. So wenig aus der zufälligen Stimmungslage in einer privaten Zelle sich auf das große Ganze schließen lässt, so klar scheint von heute aus, dass der krampfhaft aus dem Bild blickenden Vasenhalterin die nähere Zukunft gehören wird.


Harry Walter, "Bilder knistern", erschienen im Schlaufen-Verlag, 202 Seiten, 22,50 Euro. Am 1. Februar dieses Jahres wird der Autor sein Buch von 19 bis 21 Uhr im Stuttgarter Stadtarchiv vorstellen.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


1 Kommentar verfügbar

  • Ully Bear
    am 04.01.2023
    Antworten
    sehr treffsicher geschriebender Beitrag über ein lesenwertes Buch, Unterhaltsam und tiefgründig.
    Was sie schon immer über Fotografie wissen wollten eine nicht technische Ergänzung
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!