Aber zum einen wollte der Gemeinderat sich angesichts der Opernmilliarde wohl nicht knickrig zeigen. Zum anderen ist das Geld möglicherweise gut angelegt und die Summe gar nicht so hoch, wie es klingt. Früher waren in Stuttgart, ebenso wie auf Landes- und Bundesebene, bei öffentlichen Bauten ein bis zwei Prozent der Bausumme für "Kunst am Bau" vorgesehen. Wenn es danach ginge, hätte jeder einzelne Bau über 35 Millionen – und davon gab es einige in den letzten Jahren in Stuttgart – höhere Ausgaben nach sich gezogen. Auf Bundes- und Landesebene gibt es das Programm noch – trotz wiederholter Kritik im Detail seitens der Rechnungshöfe. Doch die Stadt Stuttgart hat es vor dreißig Jahren einschlafen lassen. Eine große Menge von Werken hatte sich bis dahin angesammelt. 436 Arbeiten in Stuttgart, von 228 KünstlerInnen, stellt ein kürzlich erschienenes Buch vor.
Ulrich Bernhardt, Lauras Vater, der Gründer des Stuttgarter Künstlerhauses, hat mit Aufträgen für "Kunst am Bau" wie dem Foto-Fries "Kulturströme" in der U-Bahn-Station Killesberg einen Großteil seines Lebensunterhalts bestritten. Die Tochter will allerdings nicht zurück zu früheren Zeiten. Dauerhafte, unbewegliche Werke, im Prinzip für die Ewigkeit: Das entspricht nicht mehr den Herangehensweisen der heutigen Kunst, die aber trotzdem etwas zur Stadtentwicklung und zur Gestaltung des öffentlichen Raums beizutragen hat. Hier setzt das Current-Festival an, das den urbanen Raum – Laura Bernhardt vermeidet bewusst eingefleischte Begriffe – von einem reinen Verkehrs- und Kommerz-Raum wieder in einen wirklich öffentlichen Raum zurückverwandeln will, wo man sich begegnen und betätigen kann.
Codewort für eine Scheinanlage aus dem Weltkrieg
Was aber hat das mit Brasilien zu tun? Der Ländername ist nur ein Codewort. Freilich keines, das die Gruppe SOUP für das Festival erfunden hat. Brasilien war im Zweiten Weltkrieg der Name einer sogenannten Scheinanlage bei Lauffen am Neckar, die aus Attrappen des Stuttgarter Hauptbahnhofs, des Gaskessels, Lichterketten und Flakstellungen bestand und die feindlichen Jagdbomber in die Irre führen sollte. Hunderte solcher Anlagen wurden gebaut, einige sollten ganze Städte simulieren. Sie erhielten die Namen südamerikanischer Länder. Ein bei Karlsruhe in den Hardtwald gefräster Straßenfächer etwa hieß Venezuela.
Mit der Scheinanlage Brasilien beschäftigt sich SOUP seit zehn Jahren. Harry Walter, Sohn eines Bomberpiloten im Zweiten Weltkrieg, war auf das Thema aufmerksam geworden. In Lauffen war die Anlage noch in Erinnerung. Die Stadt stimmte einer Ausstellung zu. Zeitzeugen wurden gehört, aber etwas Gespenstisches bleibt. Auf der einzigen Luftaufnahme der Anlage, die sich Walter aus Edinburgh kommen ließ, ist kaum etwas zu erkennen. Nach Aussage eines Zeitzeugen war der Bahnhof neun Meter breit, ein anderer behauptete, fünfzig Meter seien es gewesen.
Bekanntlich ist es nicht gelungen, die Bombengeschwader von Stuttgart abzulenken. Die Alliierten hatten den Spuk schnell durchschaut und warfen zum Spott Holzbomben ab. Ein holländischer Sammler, so Walter, interessiere sich dafür. Die Scheinanlage wurde abgebaut, und die Zeitgenossen hatten Wichtigeres zu tun, als die Daten zu archivieren. Dokumentiert ist, dass der Stuttgarter Oberbürgermeister Arnulf Klett am 3. April 1958 dem Lauffener Bürgermeister Hans Roller zum Dank für das Leiden, das die Stadt auf sich genommen habe, ein Ölbild geschenkt hat – das heute freilich nicht mehr auffindbar ist.
Die Unwirklichkeit des Bahnhofs
Inzwischen ist der Stuttgarter Hauptbahnhof selbst zur Attrappe geworden. Das versinnbildlicht der Schriftzug "Brasilien". Die Schienen sind 100 Meter weit weg. Der Fahrkartenschalter befindet sich in der Landesbank. Hinter der Fassade des "neuen Bonatzbaus" ist Baustelle. Die Kette Me and all Hotels, an der Billigfleischbaron Clemens Tönnies Anteile hat, ist dabei, das Empfangsgebäude in ein Hotel zu verwandeln.
Hier schließt sich der Kreis. Schon Joseph Kosuth hat den Rückbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs kritisiert. "Das ist ein rückschrittliches Architekturverständnis", so der amerikanische Künstler. "Architektur hat die Psychologie eines Ortes zu konservieren, dadurch ist es uns Menschen möglich, eine Verbindung herzustellen zu den Menschen, die vor uns dagewesen sind. Durchbricht man diese Logik, indem man nur die Fassade stehen lässt, verändert man die Städte, in denen wir leben, in eine Art Euro-Disneyland."
Von der "Unwirklichkeit der Städte" sprach ein Buch, das der Berliner Germanist Klaus R. Scherpe 1980 herausgegeben hat. Offenbar eine Replik auf das berühmte, inzwischen in 29 Auflagen erschienene Werk Alexander Mitscherlichs, der 1965 in "Die Unwirtlichkeit unserer Städte" die Zerstörungen der Nachkriegszeit kritisiert hat. Wo ausschließlich Kapitalinteressen regieren, werden unsere Städte immer unwirklicher. Nur reale Begegnungen und künstlerische Aktivitäten können dem entgegenwirken. Wie das Festival Current.
Infos zum Current-Festival hier.
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