KONTEXT:Wochenzeitung
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Sanfter Vordenker

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Dass sich vor vierzig Jahren das Stuttgarter Künstlerhaus gegründet hat, ist vor allem Ulrich Bernhardt zu verdanken. Er hat damit mehr in Bewegung gesetzt, als sich dem alten Fabrikgebäude im Stuttgarter Westen heute noch ansehen lässt.

Wellblech und Holz, hohe, lichte Räume, hinter einem Lärmschutzwall die B 14: Seit 1992 lebt Ulrich Bernhardt in einem der elf Wohnateliers in der Stuttgarter Reitzensteinstraße. Als das Atelierhaus in der Gutenbergstraße 62a im Stadtteil West abgerissen wurde, stellte die Stadt den Künstlern die Grundstücke in Erbpacht zur Verfügung, um dort mit eigenem Geld, nach einem Entwurf des Fellbacher Architekten Fritz Barth, ihr Domizil zu errichten. Ein Haus voller Fotos und Kunstwerke. Jedes erzählt seine eigene Geschichte.

Ein großformatiges Schwarzweißfoto fällt zuerst ins Auge. Joseph Beuys ist unschwer zu erkennen, neben ihm der Verleger Michael Klett, dann der frühere Oberbürgermeister Manfred Rommel. Vorn hält ein nackter, zotteliger Faun vor seinem Körper eine Leinwand in die Höhe. Hinten diskutiert der Designer Kurt Weidemann mit zwei Hausbesetzern, die in die Versammlung eingedrungen waren. "Stuttgart: Kunstprovinz [oder] Kunstmetropole" ist dahinter zu lesen und darunter: "Künstlerhaus Stuttgart".

Es handelt sich um eine Podiumsdiskussion am 9. Oktober 1981. Wie war es damals um die Stuttgarter Kunstszene bestellt? Drei Jahre zuvor hatte sich das Künstlerhaus gegründet, auf Initiative von Bernhardt und Mitstreitern. Zu diesem Zeitpunkt gab es die Neue Staatsgalerie von James Stirling noch nicht, nicht das Kunstmuseum, auch nicht die meisten städtischen Galerien im Umland; kein Theaterhaus, kein Literaturhaus, kein Theater Rampe, keine Akademie Schloss Solitude. Ganz am Anfang befanden sich noch die Kunststiftung Baden-Württemberg, die Daimler Kunstsammlung, das Studio-Theater und die Tri-Bühne.

Ein Porträt von Mao Zedong war nicht erwünscht

Im Vorjahr, 1977, hatte die Documenta 6 erstmals einen Schwerpunkt auf Fotografie, Film und Videokunst gelegt. Dem Kurator Manfred Schneckenburger ging es um "eine Idee der medienkritischen 70er Jahre", eine "Selbstreflexion der künstlerischen Medien". Gemeint waren auch Malerei und Skulptur. Doch im Begriff der Medienkritik steckt auch eine politische Dimension: die Programme und Mechanismen der Massenmedien zu hinterfragen, vor allem des Fernsehens.

Solche Diskussionen waren Bernhardt nicht neu. Einfach nur Bilder zu malen, war ihm schon im Studium zu wenig. Als in der Stuttgarter Kunstakademie 1967 ein Porträtwettbewerb ausgeschrieben wurde, bewarb er sich mit einem drei Meter hohen Porträt des Revolutionsführers Mao Zedong - und flog prompt aus der Klasse. Dabei ging es ihm gar nicht um Agitation, sondern um die Frage der Porträtmalerei an sich. Als das Bild 1973 zum einzigen Mal ausgestellt war - in einer Ausstellung über "Politische Kunstpraxis" im Württembergischen Kunstverein (WKV) - war es als Triptychon gerahmt von zwei weiteren: links "die Ideologie", eine leuchtend rote, monochrome Fläche, und rechts eine graue Fläche mit 4800 roten Punkten: "das Kollektiv".

"In allen meinen Arbeiten geht es immer um ein Bild der Zeit", sagt der Künstler heute zu seiner Arbeit. Dies gilt auch für <link https: www.kontextwochenzeitung.de kultur plakativ-934.html external-link-new-window>das Plakat, das ihn 1968 berühmt machte: Auf rotem Grund die ikonischen Köpfe von Marx, Engels und Lenin, dazu der Bundesbahn-Werbespruch "Alle reden vom Wetter - wir nicht". Das Plakat ironisiert die Heldenverehrung, die viele 68er dem revolutionären Dreigestirn entgegenbrachten.

Bernhardt war ein engagierter Student. Als Studentensprecher und Senatsmitglied schlug er vor, Harun Farocki und Hartmut Bitomsky als Lehrbeauftragte an die Kunstakademie zu holen. Ihre Filme hatte er in einer studentischen Projektgruppe bereits gezeigt. Sie gehörten zur ersten Studierendengeneration der 1966 gegründeten Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin (dffb). Bitomsky war im Zuge der 68er-Studentenproteste der Akademie verwiesen worden, womit er vierzig Jahre später, inzwischen selbst Rektor der dffb, gern kokettierte. Farocki, <link http: www.harunfarockiretrospektive.org external-link-new-window>in Berlin jüngst mit einer großen Retrospektive geehrt, hatte mit "Nicht löschbares Feuer" über die amerikanischen Napalm-Brandbomben den Film zu den Vietnam-Protesten gedreht.

Seminare machten sie auf dem Flur

"Als der bei den Studenten umstrittene Rektor Walter Brudi 1969 zurücktrat", erzählt Bernhardt, "ergab sich die Chance, die beiden Filmemacher nach Stuttgart zu holen." <link https: archiv.ub.uni-heidelberg.de artdok huber_verschuettet_vergessen_und_wiederentdeckt_2011.pdf external-link-new-window>Zur Einrichtung einer Filmklasse kam es jedoch nicht. Die neuen Lehrbeauftragten waren der Akademie nicht ganz geheuer. "In Stuttgart arbeiteten wir immer auf den Tag hin, an dem ein systematischer Lehrbetrieb möglich sein würde. Dieser Tag kam aber nie", meinte Farocki später. "Wir hatten keinen eigenen Schneidetisch, kein Geld für Material, meistens machten wir die Seminare im Flur."

Als die Film-Dozenten Stuttgart wieder verließen, hatte Bernhardt sein Studium bereits beendet. An einem "Kulturkomitee für ausländische Gastarbeiter" am Killesberg beteiligte er sich mit einer Mehrkanal-Diaschau:"Multivision", wie man das seinerzeit nannte. Als Volontär, dann als Redakteur ging er zur "Abendschau" des Süddeutschen Rundfunks, damals unter der Leitung des späteren Nahost- und Südafrika-Korrespondenten Ulrich Kienzle. Parallel arbeitete er an der Universität im Projekt "Kommunikationstechniken für Architekten und Planer": Ein "Pionierprojekt partizipativer Planung", wie Bernhardt heute meint. Eine Projektgruppe "Medieneinsatz für Bürgerinitiativen", die daraus hervorging, drehte unter anderem eine Dokumentation zum Protest gegen das Kernkraftwerk Wyhl.

"Es war die Zeit der Gegenöffentlichkeiten", so beschreibt der Künstler die Situation. Es gab eine Reihe von Interessierten, die aus verschiedenen Gründen, als Künstler oder in Bürgerinitiativen, mit dem Medium Video experimentierten. Sie schlossen sich 1974 zum Verein Stuttgarter Kommunikationsgruppe zusammen, der die Initiative zur Gründung eines Künstlerhauses ergriff. Ihr wichtigstes Anliegen war, ein Videostudio aufzubauen.

1965 war in den USA die Sony Portapak vorgestellt worden: das erste tragbare Video-Equipment, bestehend aus Kamera und Magnetbandgerät zum Umhängen. Vom ersten Augenblick an nutzten Künstler wie Nam June Paik oder Les Levine die Technik. In Europa dauerte es etwas länger, erst um 1970 kam die Video-Ausrüstung auf den Markt. Umgehend machten etwa die Wienerin Valie Export oder die Beuys-Schülerin Ulrike Rosenbach davon Gebrauch. Kamera und Bandgerät waren bezahlbar. Aber ein professionelles Studio zur Nachbearbeitung war mehr, als sich ein einzelner Künstler oder Aktivist leisten konnte.

Kurt Weidemann unterstützte den Kampf um ein Künstlerhaus

"1976 ergab sich eine neue Chance", erzählt Bernhardt: Im Auftrag von Tilman Osterwold, dem Direktor des Württembergischen Kunstvereins, reiste er nach New York, um für eine geplante Ausstellung über Videokunst zu recherchieren, die dann allerdings nicht zustande kam. In New York gab es seit Anfang der siebziger Jahre "The Kitchen", gegründet von dem Videokünstlerpaar Steina und Woody Vasulka, das "Women's Interart Center" und, damals ganz neu, das Künstlerhaus P.S.1: unabhängige, nichtkommerzielle Kunsträume, die sich auch mit dem neuen Medium Videokunst beschäftigten. Bernhardt traf führende Vertreter wie den Pionier Nam June Paik, dokumentierte seine Erfahrungen und warb damit nach seiner Rückkehr mit anderen Unterstützern für das Projekt eines Künstlerhauses in Stuttgart.

Einer dieser Unterstützer war Kurt Weidemann. "Ohne ihn", so Bernhardt heute, "hätten wir das Künstlerhaus nicht hingekriegt" - das 1978 in der alten Kofferfabrik in der Reuchlinstraße im Stuttgarter Westen eröffnet wurde. Die erste Ausstellung, nach Ausweis einer Publikation zum fünfjährigen Bestehen, präsentierte Buchobjekte - auch dies ein Thema der Documenta 6 im Vorjahr. Ein entscheidender Impuls ging dann aber von dem Internationalen Künstlerkongress aus, den Otto Herbert Hajek 1979 nach Stuttgart holte.

"Plötzlich gab es dann doch Geld für die Kunst", stellt Bernhardt fest. Auch das Künstlerhaus profitierte davon und beteiligte sich unter anderem mit einem ersten Überblick zum "Video im Abendland". Die Galeristen Hans-Jürgen Müller, Ursula Schurr und Max Hetzler veranstalteten die größte private Galerieausstellung, die es bis dahin gab. Sie nannten sie "Europa '79" und wollten bereits die Kunst des nächsten Jahrzehnts vorwegnehmen. Dabei kam es allerdings zu einem Skandal: In einer Performance im Tagblattturm hatte der nackte Wiener Künstler Wolfgang Flatz das Publikum aufgefordert, ihn mit Wurfpfeilen zu bewerfen. "Sie werden nie mehr Förderung von uns erhalten", drohte der Kulturamtsleiter Fritz Richert und OB Manfred Rommel schimpfte: "Jetzt muss genug sein."

Die Künstlerhaus-Macher hatten aber noch lange nicht genug. Sie veranstalteten ein Symposium, "Künstlerhäuser wozu?" und die einleitend beschriebene Podiumsdiskussion mit Rommel und Beuys. Es war eine turbulente Zeit. Gestört von den Hausbesetzern und der unangemeldeten Performance, redeten die Diskutanten weniger miteinander als aneinander vorbei. "Die Kunstmetropole ist das, was wir suchen", befand dennoch der Moderator Michael Klett. Später engagierte er sich beim Aufbau des Literaturhauses.

Auch heute behält Bernhard Veränderungen seiner Stadt im Auge

Vor allem gab es von Anfang an ein dichtes und vielfältiges Programm. Neue Kunstrichtungen wie Mail Art, Videokunst und Performance hatten im Künstlerhaus Premiere. Es gab aber auch Neue Musik, Punk, elektronische Musik und Minimal Music, Film und Fotografie, Vorträge zur Ökologie, Architektur und einen regen Austausch mit anderen Orten und Ländern, auch in Osteuropa.

Mit einer eigenen Edition Künstlerhaus begann gleich 1979 das Literaturprogramm. Beteiligt waren Autoren wie Manfred Esser, Wolfgang Kiwus oder Friederike Roth, die drei Jahre später den Literaturpreis der Stadt Stuttgart erhielt. Das Scherbentheater von Roland Baisch hat im Künstlerhaus angefangen, so benannt, weil die Schauspieler in der Glaswerkstatt probten. Der Begriff "künstlerische Forschung", heute aus dem Kunstdiskurs nicht mehr wegzudenken, wurde am Künstlerhaus Stuttgart geprägt.

Ulrich Bernhardt war die ersten acht Jahre Direktor des Hauses. Dann allerdings wurde die Stelle des künstlerischen Leiters 1984 von der Funktion des Geschäftsführers getrennt. Das Künstlerhaus wurde zum Sprungbrett für Kuratorenkarrieren. Dabei verlagerte sich jedoch der Schwerpunkt. Neue Tendenzen wurden weiterhin vorgestellt, aber immer weniger im Haus selbst entwickelt. Zuletzt hat Fareed Armaly um die Jahrtausendwende versucht, den experimentellen Geist der Anfangszeit neu zu beleben. Heute hat sich die Zahl der Kunst-Orte vervielfacht. Die Anregungen, die vom Künstlerhaus ausgingen, haben dazu beigetragen.

Bernhardt hat seinen Frieden gemacht. Seine Nachfolger will er nicht kritisieren. Er hat große öffentliche Aufträge ausgeführt, darunter der zweimal 150 Meter lange fotografische Fries "Kulturströme" in der U-Bahn-Station Killesberg. Er bleibt weiter aktiv, als Künstler und Zeitgenosse, unter anderem in der Gruppe "Stuttgarter Observatorium urbaner Phänomene" (SOUP), die sich angesichts der Stuttgart-21-Proteste gebildet hat, um die Veränderungen in der Landeshauptstadt im Blick zu behalten.


Info:

Zum Jubiläum eröffnet das renovierte Café des Künstlerhauses neu, Reuchlinstraße 4b in Stuttgart-West, <link https: www.avedition.de de kuenstlerhaus-stuttgart.html external-link-new-window>und es erscheint eine Publikation: Künstlerhaus Stuttgart. 40 Jahre, 1978 – 2018.


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