KONTEXT:Wochenzeitung
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Eine unheimlich obszöne Höhle

Eine unheimlich obszöne Höhle
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Der Eingang war eine riesige Vagina aus Pappmachee: Vor 50 Jahren erhitzte das "Sextribunal" an der Stuttgarter Kunstakademie die Gemüter. Für die Professoren war es eine unerträgliche Sauerei, für die Studierenden ein Akt der Emanzipation – und nur eine von vielen Aktionen gegen autoritäre Strukturen.

Wer am 6. Juni 1968 zur als "Tribunal" angekündigten Veranstaltung in die Aula der Kunstakademie auf dem Weißenhof wollte, musste erst durch eine mehrere Meter lange Vagina aus Pappmachee. Mehrere hundert Leute wagten das, auch Professoren hätten sich "schamrot durchgezwängt", erinnert sich der damalige Asta-Vorsitzende Klaus Mausner. Was die Besucher dahinter erwartete, deutete das Einladungsflugblatt (<link file:39749>hier das Dokument) nur vage an; mit seinen Fragen ("Pornographie als Aufklärung? Sexualität ein politisches Thema? Kampf gegen die Sexualunterdrückung?") wirkte es eher wie eine Diskussionsgrundlage als eine Programmvorschau.

Diskutiert wurde tatsächlich viel und heftig, über den Begriff des Obszönen oder die Sexualmoral im Kapitalismus. Der Höhepunkt aber war die Vorführung des <link https: de.wikipedia.org wiki besonders_wertvoll external-link-new-window>Kurzfilms "Besonders wertvoll" des Experimentalfilmers Hellmuth Costard, der sich ironisch mit der "Sittenwidrigkeits-Klausel" des damals neuen Filmförderungsgesetzes beschäftigte. Drastische Emotionen schildert ein nicht näher benannter "Augenzeuge", den der ehemalige Kunstaka-Rektor Wolfgang Kermer in seinem 1998 erschienenen Buch "1968 und Akademiereform" zitiert: Der gezeigte Kurzfilm sei "inhaltlich so obszön" gewesen, "dass sich Studentinnen teilweise übergeben mussten, Weinkrämpfe bekamen und sich ärztlich behandeln lassen mußten". Später sei die Lage so weit eskaliert, "dass Studenten vorbereitete Luftmatratzen in den Saal trugen und zu einem 'Love-In' aufforderten", Studentinnen seien aufgefordert worden, "sich der Kleidung zu entledigen".

"Alles Quatsch", kommentieren übereinstimmend Ulrich Bernhardt, Claus Dreyer und Mausner, alle drei damals Studenten der Kunstaka. "Es ist auch kolportiert worden, dass Mädchen mit einem Hund koitiert hätten – frei erfunden, im Grunde zum Totlachen", erzählt Mausner. Klar, die Pappmachee-Vagina, "das war damals ein völliger Tabubruch", sagt Mausner, aber laut Dreyer, der erst 1968 aus Berlin in den Südwesten gekommen war, "nur für die biederen Stuttgarter Verhältnisse eine Provokation". Und im Kurzfilm "Besonders wertvoll" sei halt unter anderem ein masturbierter Penis zu sehen gewesen, aber "alles im Rahmen des damals Üblichen", so Dreyer. Ohnmächtig werdende oder sich übergebende Studentinnen habe er nicht gesehen, freie Liebe in der Aula ebenso wenig. Tatsächlich sei das, was in der Überlieferung schnell zum "Sextribunal" oder "Porno-Tribunal" wurde, "ein großes fröhliches Chaos, eine Art Riesen-Happening" gewesen, sagt Mausner, aber keineswegs so orgiastisch eskaliert, wie es manche empörten Zeitgenossen phantasierten.

Das Konzept des Tribunals sei aus der These des Psychoanalytikers Wilhelm Reich entstanden, "dass die vorherrschende repressive, verdruckste Sexualmoral autoritäre Charaktere erzeugt", erzählt Mausner, es sollte "eine massive Aufklärungsveranstaltung mit provokativer Form" sein. Der Anlass dafür war, dass Professoren kurz zuvor ein als obszön empfundenes Werk aus einer Ausstellung entfernt hatten. Die tiefer liegende Ursache aber lag in einem Konflikt, in dem es im Kern um eines ging: radikale Demokratisierung. Ein Konflikt, in dem sich die großen Themen der 68er-Bewegung und der APO, der Protest gegen die Notstandsgesetze, Alt-Nazis und den Vietnamkrieg, mit den sehr konkreten vor Ort verzahnten.

Als Zumutung empfinden damals viele Studierende die autoritären Strukturen an der Aka. "Die Professoren herrschten wie kleine Könige in ihren Klassen" erinnert sich Dreyer, "Interdisziplinarität war ein Feindeswort", sagt Ulrich Bernhardt. Und an der Spitze der kleinen Könige steht mit Rektor Walter Brudi ein "autoritärer Typ" (Bernhardt), der schon früh NSDAP-Mitglied war – bereits 1932, ein Jahr vor Hitlers Machtübernahme, war er der Partei beigetreten.

Bernhardt, "Zwiebel" genannt, studiert ab 1965 an der Kunstakademie. Im Januar 1968 gestaltet er, nach einer Idee von Jürgen Holtfreter, das wohl berühmteste Plakat der deutschen Studentenbewegung "Alle reden vom Wetter" (<link https: www.kontextwochenzeitung.de kultur plakativ-934.html internal-link-new-window>siehe Kontext-Bericht). Politische Kunst hat er aber schon vorher gemacht, 1966 etwa im Club Voltaire im Leonhardsviertel ausgestellt, damals Treffpunkt und Infobörse der Linken in Stuttgart.

Zu diesem Zeitpunkt ist der Asta der Kunstakademie noch völlig unpolitisch, organisiert vor allem Bildungsreisen und den Fasching. Der Politisierungs-Impuls kommt aus Berlin: Einige Tage, nachdem am 2. Juni 1967 der Student Benno Ohnesorg vom Polizeibeamten Karl-Heinz Kurras erschossen worden ist, findet an der Akademie eine studentische Vollversammlung statt. Klaus Mausner, damals als Kunsterziehungsstudent noch relativ neu an der Aka, aber schon einige Jahre Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), erzählt, er sei aufgestanden und habe gesagt: "Es ist mir unbegreiflich, dass in Berlin ein Student auf offener Straße erschossen wird, der gegen einen diktatorischen Schah protestiert, und in Stuttgart wird kein Wort dazu verloren." Prompt wird Mausner zum politischen Referenten des Asta gewählt, im Herbst 1967 dann auch zum Vorsitzenden.

Der Prorektor verbietet den Asta – das geht nach hinten los

Am 21. November 1967 wird Todesschütze Kurras vor Gericht freigesprochen, unmittelbar danach sieht man an den Wänden der Kunstaka Parolen wie "Berlin-Justiz – Hure der Macht". Der Asta habe nichts damit zu tun gehabt, "auch wenn wir solidarisch waren", erinnert sich Mausner, Prorektor Rudolf Yelin (in Vertretung für den erkrankten Brudi) verbietet aber erst politische Veranstaltungen des Asta und dann, am 14. Dezember, den Asta komplett – was er rechtlich gar nicht darf.

Die autoritäre Entscheidung geht nach hinten los. Aus Protest ruft der Asta schon am nächsten Tag eine Vollversammlung ein, 300 der 500 Studierenden kommen, die Presse berichtet breit – und auf Druck des Kultusministeriums muss Yelin die Amtsenthebung rückgängig machen.

Der Protest setzt eine Kettenreaktion in Gang, der künstlerische Nachwuchs fordert eine Demokratisierung der Strukturen und Lehrinhalte. Zentrales Ziel wird die "Drittelparität": Der Senat soll jeweils zu einem Drittel durch Professoren, durch Vertreter des Mittelbaus – wissenschaftliche Mitarbeiter, künstlerische und technische Lehrer – und durch Studierende besetzt werden. Weitere Forderungen kommen hinzu: Die Einrichtung offener Werkstätten sowie von theoretischen Lehrstühlen wie Soziologie und Psychologie, die Klassen sollen durchlässiger, verbindliche Prüfungskriterien und Lehrinhalte erarbeitet werden. Den Druck erhöhen die Studenten mal mit Veranstaltungen wie der Podiumsdiskussion "Entrümpelt die Akademien!" am 6. Februar 1968, für die der Asta unter anderem Joseph Beuys und Bazon Brock gewinnen kann, mal mit Aktionen wie Go-Ins während Senatsversammlungen.

Brudi sieht in den Forderungen eine "freche und arrogante Art der Erpressung", doch es zeigt sich, dass es auch unter den Professoren Verbündete gibt. Etwa den Grafiker Kurt Weidemann, der Yelins Asta-Verbot gegenüber den "Stuttgarter Nachrichten" kritisiert, und K.R.H. Sonderborg, der sagt, es könne "doch nur begrüßt werden, wenn die Studenten endlich anfangen zu denken und politisch unabhängig zu werden."

"Vögeln ist besser als Kunst"

Ein Mitspracherecht fordert der Asta auch im April 1968 bei der Nachfolge von Grundlehre-Professor Gerhard Gollwitzer – ohne Erfolg. Anfang Mai dann, bei einer Ausstellung mit Arbeiten der Nachfolgekandidaten, wird die Arbeit des Studenten und Bewerbers Jürgen Vallen "unter professoralem Beifall zerstört und entfernt", so ein Asta-Bericht. Das Bild habe sich mit sexueller Unterdrückung beschäftigt, die Professoren bezeichnen es sowie das daneben hängende Transparent mit dem Slogan "Vögeln ist besser als Kunst" als "Sauerei". "Mit Rufen wie 'Heiraten Sie doch!' und 'Wenn wir früher solche Probleme hatten, gingen wir in den Wald!' verhielten sich die Professoren wie kleinbürgerliche Familienpatriarchen", kommentiert der Asta-Bericht.

Das ist der Anlass für das Sextribunal. Im Vorfeld schreiben die Studierenden auch den bekannten Publizisten Ludwig Marcuse an, dessen Stellungnahme es an Deutlichkeit nicht vermissen lässt (<link file:39750>hier das Dokument): "Professoren der Bildenden Künste, zu deren Vokabular 'Schweinerei' und 'Sauerei' gehören, disqualifizieren sich ohne Ansehen des Arguments (...). Es ist überflüssig, mit solch aufgeregten Primitiven zu reden", schreibt Marcuse, oder: "Das Studentenspruchband 'Vögeln ist besser als Kunst' ist vielleicht nur eine Knabenkritzelei an der Wand eines Pissoirs, verdient aber eine ernste Betrachtung, die bis zur Problematik der Freudschen 'Sublimation' führt."

Trotz großer Schockwellen und Hysterie in der Öffentlichkeit bleiben die konkreten Folgen des Sextribunals am 6. Juni überschaubar. Handfeste Überbleibsel der Veranstaltung am Tag danach sind allein die Pappmachee-Vagina, die an die Aula-Wände geschriebenen Sprüche (etwa: "Scheißen und brunzen sind auch Kunsten") und diverse erotische Kunstwerke. Laut Asta-Dokumenten seien der Rektor und mehrere Professoren zum Staatsanwalt und den Landtagsfraktionen gegangen, "mit Pornographien in der Hand als Beweismittel", doch juristische Schritte sind nicht dokumentiert.

Für solche sorgt erst eine Aktion einen Monat später: In der Nacht zum 10. Juli schreiben vier Studenten einen Spruch aus dem KZ Dachau in den Gang neben das Rektoramt ("Es gibt einen Weg zur Freiheit, seine Meilensteine heißen: Gehorsam, Fleiß, Ehrlichkeit, Ordnung, Sauberkeit, Nüchternheit, Wahrhaftigkeit, Opfersinn und Liebe zum Vaterland.") und signieren mit ihren Namen. Eine Anspielung auf Brudis Nazi-Vergangenheit.

Nach Brudis Rücktritt scheint vieles möglich

Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft auf Brudis Anzeige hin wegen Sachbeschädigung. Am 20. März 1969 wiederholen vier weitere Studenten, darunter Bernhardt, die Aktion auf einem Betonträger im Aka-Neubau. Zum Prozess gegen die ersten vier kommt es am 22. Oktober 1969 vor dem Amtsgericht Stuttgart (<link https: www.zeit.de zeichen-auf-der-weissen-wand komplettansicht _blank external-link-new-window>hier ein Bericht der "Zeit"), der spätere RAF-Anwalt Klaus Croissant ist ihr Verteidiger – es ist sein erster politischer Fall. Die vier Studenten der ersten Aktion werden zu Geldstrafen von je 75 D-Mark verurteilt, die Urheber der zweiten Aktion werden freigesprochen, die Gerichtskosten übernimmt Professor Kurt Weidemann.

Brudi ist damals schon nicht mehr Rektor, im Sommer 1969 ist er zurückgetreten. Die Studenten haben ein erstes Ziel erreicht. Nachfolger Herbert Hirche ist offener, und plötzlich scheint vieles möglich. Die Drittelparität wird 1970 an der Aka umgesetzt, die Studierenden setzen die Berufung von Harun Farocki als Dozent einer Filmklasse durch, statt Aufnahmeprüfungen gibt es ab dem Sommersemester 1969 ein offenes "Eingangssemester". "Das war ziemlich einzigartig in Deutschland", erinnert sich Dreyer, der wesentlich an der Erarbeitung beteiligt war. Doch all das währt nicht lange, Mitte der 1970er Jahre sind die radikalen Neuerungen zurückgenommen. Teils fehlt es unter dem neuen Rektor Wolfgang Kermer (1972-1984) an Unterstützung, für ein Roll-back sorgen aber auch spätere Hochschulgesetze.

Was ist geblieben von den wilden Zeiten auf dem Weißenhof? In den Jahren um 1968 "war die Kunstakademie ein Zentrum des demokratisch-aufrührerischen studentischen Lebens", sagt Mausner, "sie hat auch ausgestrahlt auf die Uni in der Innenstadt, die immer deutlich braver war." Nachwirkende postive Folgen? Mausner, der seit 1970 DKP-Mitglied ist, deswegen vom Berufsverbot betroffen war und nie Kunstlehrer werden konnte, ist skeptisch. Am ehesten die Professur des österreichischen Bildhauers Alfred Hrdlicka, der 1971 durch ihre Initiative an die Aka geholt wurde und bis 1986 blieb. Hrdlicka, zeitlebens Kommunist, habe eine ganze Reihe Leute nach Stuttgart gezogen, die nach wie vor gute, engagierte Bildhauer seien.

Claus Dreyer, der später Architekturprofessor in Detmold wurde, sieht es etwas milder; mit Farockis Filmklasse etwa habe überhaupt erst eine Öffnung des künstlerischen Spektrums an der Akademie begonnen. Die studentischen Forderungen seien zwar oft wirkungslos geblieben oder zurückgedreht worden, aber das Ganze habe doch einen Prozess in Gang gesetzt, der ermöglichte, dass sich das "gesamte Spektrum der Akademie im Laufe der Zeit geöffnet und modernisiert hat".


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3 Kommentare verfügbar

  • Wolfgang Kermer
    am 26.07.2018
    Antworten
    Die Anbringung des KZ-Spruchs innerhalb der Akademie erfolgte erstmals am 10. Juli 1968 in skripturaler Form neben dem Eingang zum damaligen Rektoramt (Altbau) - "aus Protest gegen die undemokratischen Verhältnisse", so die studentische Begründung. Zum zweiten Mal fand sich das Zitat am 20. März…
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