Wann begann eigentlich dieses 68? Jedenfalls nicht 1968. Schon am 12. April 1957 protestierten im Göttinger Manifest 18 der angesehensten Atomforscher (unter anderem Otto Hahn, Max Born, Werner Heisenberg) gegen die von Konrad Adenauer und Franz-Josef Strauß angestrebte atomare Aufrüstung der Bundeswehr. In der Kampagne "Kampf dem Atomtod" formierte sich breiter Widerstand, organisatorisch und finanziell getragen von SPD und Gewerkschaften, linken Jugendorganisationen, Prominenten und örtlichen Komitees. Es gab bundesweit Kundgebungen und Demonstrationen, aber sie konnten den Aufrüstungsbeschluss des Bundestags vom 25. März 1958 nicht verhindern oder gar rückgängig machen.
Die Sechziger Jahre wurden thematisch eingebombt von Heinrich Böll und Thomas Dehler, Robert Jungk, Erich Kästner, Eugen Kogon, Martin Niemöller. Im Unter- und Hintergrund werkelten seit 1956 fleißig die verbotenen Kommunisten, stritten vergeblich um KZ-Renten und bekamen es mit den Richtern aus der Nazi-Zeit zu tun. Die Kirchen sahen die Welt in Sünde und waren weit weg von jeder Beichte. Im Regierungslager regierten die alten Kameraden, sofern sie nicht ihre fetten Pensionen genossen. Fidel Castro und Che Guevara winkten aus Übersee – sie immerhin hatten eben ein US-gelenktes Terrorregime gestürzt. Unsereins aber stürzte sich auf die Antibabypille, die den Ostermärschen Auftrieb gaben, freute sich naiv über John F. Kennedy, der freilich eine bessere Figur machte als Bundespräsident Heinrich Lübke. Die SPD hatte sich mit ihrem Godesberger Programm von vermeintlich überflüssigen Klamotten befreit – und ich machte auf der Schwäbischen Alb Hochzeit, zivilen Ersatzdienst als Gärtner und war neben dem Ausgeizen von Tomaten ganz darauf konzentriert, die Welt zu retten, was letztlich zu meinem Ausschluss aus der SPD führte. Ich war nicht allein. Parteiausschlüsse gab es von der Stange.
In diesen Jahren wurden die Samen gelegt für die 68er, die Außerparlamentarische Opposition (APO). Wir sind ja auch nicht vom Himmel gefallen.
Unterwegs auf dem dritten Bildungsweg
Weil es keine Handys gab, kaum Telefon, waren wir in den frühen Sechzigern gezwungen, uns zu treffen. Entweder in der Wohnung oder eben Auge um Auge am Arbeitsplatz: Gespräche in der kleinen und großen Pause, Debatte nach Feierabend, Bier, Gruppenabende, Wanderungen, Seminare am Wochenende, Zeltlager. Briefe schreiben, echte Leute besuchen, Bücher lesen. Musik, Moorsoldaten und Moritaten. Abendschule. Wir waren viel unterwegs auf dem dritten Bildungsweg.
Die Welt war interessant, innen wie außen, der Jubel der Kriegsgegner über gewonnene Befreiungskriege laut. Schon gehört? Patrice Lumumba im Kongo, Grigoris Lambrakis, Griechenland. Linke Helden haben kurze Leben. Augstein muss in den Knast. Am Stuttgarter Schlossplatz unter den Kastanien jeden Abend bis tief in die Nacht lustgetränkte Volksdebatten, spontane Aktionen gegen Strauß oder die neuen Luftschutzsirenen.
Nato nein? Autokorso in die Innenstadt: Ich musste beim Stuttgarter Polizeipräsidenten die Slogans zur Genehmigung vorlegen. 1964 bekommt Robert Havemann, Widerstandskämpfer, in der DDR Berufsverbot, der Auschwitz-Prozess in Frankfurt beginnt, wir gründen in der Leonhardstraße 8 in Stuttgart den Club Voltaire (1964-1971).
Wir? Lohnabhängige, undogmatische Linke, Junge. Künstlerinnen. Viele, die in diesen Jahren in der Stadt der Auslandsdeutschen Wegweiser aufstellten, etwa Fritz Lamm und Susanne Leonhardt, Rose Acker, Eugen Eberle, Helga Schmalenberger, Uta Bitterli. Willi Hoss, Carsten Kunkel, Otto Höft. Niedlich, Kiwus, Esser, Podlech. Helmut Mader. Katja Tenholt. Jack Beck. Jutta Österle. Wolfgang Killgus, Margot Wilhelmy. Jügen Holtfreter. Kurt Blank. Ich. Viele.
Es waren die Jahre des Nelson Mandela, der Millionen "Gastarbeiter", der Bilder von Bomben und Napalm in Vietnamkrieg, der Erinnerung an Hiroshima, des Gestanks der alten Kameraden in Ämtern und Würden und der von uns gepamperten Diktaturen weltweit. Wir in der BRD waren uns für die Franco-Faschisten nicht zu schade und nicht für Portugals Salazar, nicht fürs Apartheid-Regime in Südafrika. Es gab keine Militärdiktatur, mit der wir Deutschen nicht auf Du waren.
Prima Klima für die APO
Im Club Voltaire gab es Weisheit mit Löffeln zu fressen, und wir haben tüchtig zugelangt. Mitunter hat es geholfen. Solche Dreh- und Angelpunkte sind heute, 2018, selten. Sie finden sich vielleicht bei der Spätgeburt der 68er, den AnStiftern. Dabei war damals schon die Einheitsfront kein erklärtes Ziel, es reizten eher die Dissidenten, ob in Ungarn, Polen, der CSSR, der DDR, die Abweichler von SPD und KPD, die Häretiker wie die Dutschkes, und es störten eher die Sektierer, die Blindgänger, die Gläubigen aus allen Lagern. Und es war eben kein elitäres Gequatsche bis tief in die Nacht, kein Debattieren, bis die letzten Lohnabhängigen die Schnauze voll hatten und ins Bett mussten. Schichtbeginn 6 Uhr.
2 Kommentare verfügbar
Dietmar Henneka
am 22.01.2018