Am Anfang steht eine der erfolgreichsten Werbekampagnen der Deutschen Bundesbahn. Mit dem flotten Spruch "Alle reden vom Wetter, wir nicht" der Werbeagentur McCann Erickson wird die modernste E-Lok jener Zeit (Baureihe E 10) kombiniert mit einer verschneiten Winterlandschaft, um die relativ große Unabhängigkeit der Eisenbahn von Witterungsbedingungen aufzuzeigen. Unten steht klein das Logo der Bahn und der Satz "Fahr lieber mit der Bundesbahn". Das war 1966, also zu einer Zeit, als Bahnchefs noch nicht nach Ihrer Managementerfahrung in der Automobilindustrie ausgewählt wurden.
Die geistreichste Umdeutung dieses Plakats stammt von Stuttgarter Kunstrebellen. Prof. Dr. Wolfgang Kermer, langjähriger Rektor der Kunstakademie, hat im Band "1968 und Akademiereform" die damalige Umbruchsituation an der Landeshauptstadt als Schauermärchen überliefert: "Mit lautstarken Aktionen und provozierenden Wandparolen, Plakaten und Flugblättern, mit Vollversammlungen, Sprengungen von Gremiensitzungen und Anrempeleien ... mit all dem eskalierten die Konflikte in einer heute kaum noch vorstellbaren Weise." Akademische Kleingeister reagieren angsterfüllt auf die Systemkritik der Studentinnen und Studenten. Ein Sextribunal löst einen "wahren Schock" aus, und als die Studenten dann ihre Fantasie und Kreativität in den Dienst der Protestbewegung stellen, bricht eine neue Zeit an.
Ulrich Bernhardt, genannt Zwiebel, ein schwäbischer Pfarrerssohn mit rebellischen Genen, versiebt schon sein Abitur mit einem aufmüpfigen Deutsch-Aufsatz zum Thema: "Soll ein Künstler provozieren oder hat er eine wichtigere Aufgabe." Bernhardt, heute einer der wichtigsten Medienkünstler Stuttgarts, hat seinen Protestgeist nicht abgelegt. Was bei Andy Warhol museumsreif wird, führt bei Zwiebel zum Eklat. Als er an der Kunstakademie ein drei Meter mächtiges Porträt des chinesischen Revolutionärs Mao Tse-tung in der Werkstatt des Glasmalers Rudolf Yelin anfertigt, fliegt er aus dieser Klasse. Doch Geschichte schreibt er mit dem SDS-Plakat "Alle reden vom Wetter – wir nicht". Das von ihm selbst gedruckte Originalplakat hängt heute im Bonner Haus der Geschichte.
Uli Bernhardt, der auch heute wieder gegen den S-21-Wahn demonstriert, erzählt die spannende Entstehungsgeschichte: "Jürgen Holtfreter, ein Apo-Aktivist aus dem Stuttgarter Club Voltaire, hatte eine Collage mit der Bahnwerbung und den Köpfen der Linksheiligen gemacht, als Anzeige für die Falken, die damals von Axel Zimmermann geleitet wurden. Ich sah diesen Entwurf, der mir hervorragend gefiel und fragte den Fotomonteur Holtfreter, ob ich ihn für die Studentenparlamentswahlen an der Kunstakademie verwenden könne. Er sagte zu und ich kombinierte nun auf rotem Grund die bereits durch TV-Spots, Rundfund- und Plakatwerbung popularisierte Textzeile 'Alle reden vom Wetter' mit den drei revolutionären Köpfen von Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir Iljitsch Lenin. Doch vom SDS-Vorstand Stuttgart kam kein Segen: die SDS-ler fanden es lächerlich, einen Bahnslogan mit den marxistischen Klassikern zu kombinieren. Doch schon damals gab es schwäbische Querdenker: Der Galerist Hans-Jürgen Müller ("Kunst kommt nicht von Können") gab mir 300 Mark für die Repros und den Druck, dann wurde die Rakel in Farbe getaucht und das rote Plakat an der Mensa verklebt."
"Wir nicht" steht unter den Porträts, eine Absage an die Theorielosigkeit jener Zeit, die nur Wirtschaftswunder, Wohlstand und Kalten Krieg predigt. Die eigene braune Vergangenheit wird ausgeblendet, es wird schöngefärbt und frech gefälscht. Den eigenen kritisch nachfragenden Kindern wird das Wort verboten. Am Tisch werden stattdessen Belanglosigkeiten serviert, wie die Wetterlage oder die Gartenpflege der Nachbarn. Der SDS will jetzt reden, sich nicht mehr den Mund verbieten lassen.
Die dpa bringt das Plakat als Meldung und im ganzen bundesdeutschen Blätterwald wird das Motiv abgebildet. Fast hunderttausendfach gedruckt, ziert es Studentenbuden und auch manches bürgerliche Wohnzimmer. Mit der Idee der Stuttgarter Rebellen finanziert der SDS Rechtshilfefonds bei Prozessen gegen Landfriedensbruch nach Protestaktionen gegen die Notstandsgesetze. Auch bei Joschka Fischer, Peter Grohmann und Winfried Kretschmann hängt das rote Plakat in der Wohngemeinschaft.
Beim Kampf Stuttgarter Bürger gegen Stuttgart 21 taucht das Motiv – wieder variiert – am Bauzaun als anonyme Montage auf. Nachdem die Protestbewegung Zehntausende auf die Straße bringt und Stuttgart zur Protesthauptstadt der Republik wird, ist der Satz "Alle reden von Stuttgart 21" eine richtige Feststellung. Doch die Bahn – symbolisiert durch den stromlinienförmigen ICE-Triebwagen – fährt unbeirrt weiter: "Fahr einfach mit in die Hölle", lautet der zynische Kommentar.
"Alle reden vom Wetter, wir nicht", die einst legendäre Werbezeile der Bahn wird für die Bildzeitung vom 14. 7. 2010 zur Realsatire. Unter der Überschrift "Wie aus einem legendären Bahnspot reiner Bahnspott wurde", wird auf die Technikpannen der Bahn eingegangen: Im Winter versagen die Heizungen, im Sommer die Klimaanlagen. Sogar die Südwestpresse ulkt: "Die Bahn hat zwei Probleme: Sommer und Winter".
Jetzt hat die Kontext:Wochenzeitung zur Stuttgarter Oberbürgermeisterwahl eine neue, pfiffige Variante kreiert. Der philosophische Landesvater Winfried Kretschmann ersetzt den Chefideologen Karl Marx, Boris Palmer rutscht in die Rolle von Friedrich Engels und Fritz Kuhn imitiert nach seinem spektakulären Erfolg vom 21. 10. den Helden der russischen Oktoberrevolution. Boris Palmer erkundigte sich noch am Wahlabend, wer denn vor ihm in der Mitte gestanden habe und war mit Friedrich Engels als Vorgänger sehr zufrieden. Statt Karl Marx Kretschmann? "Ah ja, der ist auch ein Philosoph", kommentierte der Tübinger OB. Statt Lenin Fritz Kuhn? "Beides Strategen." Palmer war so überzeugt, dass er das Kontext-Plakat sofort auf seiner Facebook-Seite postete.
Alle reden vom Wetter – ist das der Regenbogen nach dem Unwetter oder gar das Sonnenlicht nach der Dunkelheit ? Vielleicht ist die "grüne Republik" im Südwesten aber auch nur ein kurzes Wetterleuchten oder ein vorbeiziehendes Gewitter.
Das, was noch kein tanzender Stadtindianer oder Bauernregeln erfindender Landwirt vermochte, wird dem grünen Trio unterschoben: "Wir machen das Wetter": Regenerative Energien sind zwar ein Beitrag gegen die Zerstörung der Ozonschicht und gegen den Klimawandel und grüne Frösche, die auf Leitern nach oben steigen, gelten allgemein als Wetterpropheten. Doch der endgültige Wetterbericht steht noch aus.
Macht man Schönwetter beim bisherigen Gegner oder verhagelt man der Bahn die Tour? Die Richtung kennen wir noch nicht. Da ist die kleine Unterzeile "Und Kontext schaut euch auf die Finger" doch wieder ganz beruhigend. Auf das Ergebnis kann man Einfluss nehmen.
Dr. Ulrich Weitz ist Kunst- und Kulturwissenschaftler und hat an der Stuttgarter Kunstakademie studiert. Gesellschaftlich engagierte Kunst ist seine Leidenschaft.
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