Seit dem 17. August klafft in der einzigen noch mehr oder weniger erhaltenen Fassade des Stuttgarter Hauptbahnhofs ein Loch. Nicht das große unten für die acht Gleise ist gemeint, sondern ein brandneues kleines, oben: Aus zunächst ungeklärter Ursache haben sich über der Pfeilerhalle eine Reihe von Steinen gelöst und sind teilweise nach unten getost – glücklicherweise ohne jemanden zu verletzen. Wie die Bahn nun am vergangenen Freitag mitteilte, wurde eine tragende Wand versehentlich entfernt, was eine Kettenreaktion nach sich zog.
Diese Art von Baumanagement ist wenig geeignet, Vertrauen in größere Maßnahmen des Bauherrn zu haben, steht aber in lückenloser Tradition der Deutschen Bahn AG. Die ehemalige Behörde ist bekanntlich zu 100 Prozent in öffentlichem Besitz. Am von Paul Bonatz erbauten Stuttgarter Hauptbahnhof hat sie – trotz seines in Fachkreisen weltweit anerkannten Stellenwerts als Meilenstein in der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts und trotz des seit 1987 bestehenden Denkmalschutzes – vieles an Unterhaltsmaßnahmen unterlassen, was einem privaten Denkmalbesitzer auferlegt würde. Die Deutsche Bahn AG hat ferner alles unternommen, um den Bau über Jahrzehnte systematisch verkommen zu lassen und ihn darüber hinaus mit unpassenden Maßnahmen verschandelt.
Vollständig abreißen
Die DB hat im Einvernehmen mit dem damaligen Präsidenten des Landesdenkmalamts und mit namhaften Stuttgarter Architekten – diese haben später teilweise ihren fatalen Irrtum erkannt – den Abriss der beiden Seitenflügel ohne triftigen Grund in Kauf genommen. Diese beiden Seitenflügel waren aus der Funktion geboren und auch architektonisch nie als nebensächliches Beiwerk entworfen worden, sondern, wie ein Blick auf alte Pläne und Ansichten zeigt, als integraler Bestandteil einer damals neuen Architekturauffassung: weg von der preußisch-wilhelminischen symmetrischen Prachtfassade und hin zu einem freien Spiel unterschiedlicher kubischer Baumassen mit mehreren Fassaden, und hin zu einer städtebaulichen Einbindung in den umgebenden Stadtorganismus – in Stuttgart bestehend aus den beiden Vorplätzen (Hauptfassade und Nordausgang), der ehemaligen Königlich Württembergischen Bahndirektion, Königstraße und Lautenschlagerstraße, Hotel Zeppelin, Hindenburgbau und nicht zuletzt Schlossgarten. Am Ende haben die Stuttgarter für den Teilabriss gestimmt.
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Marc Hirschfell
am 06.09.2021