Der Kunsthistoriker Matthias Roser (54) stammt aus einer alten Stuttgarter Unternehmerfamilie, die dem Bahnhofsarchitekten Paul Bonatz eng verbunden ist. 1806 gründete Jakob Heinrich Roser eine Lederwarenfabrik. Matthias Rosers Vater war der vorletzte Direktor des seit 1872 in Feuerbach ansässigen Unternehmens. Mehrere Gebäude auf dem Roser-Areal hat Paul Bonatz entworfen: unter anderem das Backstein-Verwaltungsgebäude von 1922 mit seinem charakteristischen Stufengiebel und 1936 ein inzwischen abgerissenes, modernes Fabrikgebäude. Von Bonatz stammen auch die Wohnhäuser von Matthias Rosers Großvater Fritz und seines Großonkels Hans Roser. Aber nicht deshalb begann er sich für Bonatz zu interessieren.
Roser hat Kunstgeschichte studiert, in Fribourg in der Schweiz, mit Schwerpunkt Baudenkmalpflege. In seinem Studium beschäftigte er sich fast ausschließlich mit mittelalterlicher Architektur des 12. und 13. Jahrhunderts. Als es, inzwischen in Innsbruck, auf den Abschluss zuging, wollte er zur Abwechslung ein moderneres Thema bearbeiten. Er sah sich in seiner Heimatstadt um und stellte fest, dass es "erstaunlich viele weiße Flecken" in der Stuttgarter Architekturgeschichte gab.
Die Auseinandersetzung mit der Weißenhofsiedlung hatte soeben erst begonnen. Zum Tagblatt-Turm gab es nichts, ebenso wenig zu Bonatz. Roser beschloss, den führenden Stuttgarter Architekten der ersten Jahrhunderthälfte zu seinem Thema zu machen. Mit seinem Hauptwerk, dem Bahnhof: "Ein vergessenes Meisterwerk der Architektur", wie der Untertitel seines 1987 erschienenen Buchs lautet.
"Fassungslos", dass der Bonatzbau "massakriert" werden soll
Roser arbeitete im Archiv der Bahndirektion, fand interessante Unterlagen in Bonatz' Nachlass und kam in Kontakt mit ehemaligen Mitarbeitern. Ein damals 90-jähriger Freund riet ihm dann, mit der Bahn Kontakt aufzunehmen, um den Bau mehr in den Blickpunkt zu rücken. Rosers Vorschlag, den 65. Bahnhofsgeburtstag zu feiern – gerechnet seit Inbetriebnahme des ersten Bauabschnitts 1922 –, stieß auf offene Ohren. "Fantastische Fotos" (Roser) aus der damaligen Landesbildstelle waren in der kleinen Schalterhalle ausgestellt. 100 000 Besucher kamen an einem einzigen Wochenende. Ein TGV, damals noch mit dem deutschen Oberleitungssystem inkompatibel, wurde von der französischen Grenze nach Stuttgart geschleppt.
"Dieser Bahnhof ist zukunftsfähig": dieses Signal habe die Bahn senden wollen. Es war noch die Zeit vor dem ICE, der erst 1991 betriebsbereit war. Regierungspräsident Manfred Bullinger trug den Bahnhof ins Denkmalbuch ein: als "Kulturdenkmal besonderer Bedeutung" in allen seinen Teilen. "Der Bau ist ein Wahrzeichen, das mit Recht wegen seiner architektonischen Bedeutung für seine Zeit unter Denkmalschutz steht", unterstrich Oberbürgermeister Manfred Rommel. Ulf Häusler, der Präsident der Bahndirektion, schrieb in der Festschrift: "Wir sind uns der Bedeutung dieses Schutzes für die Nachwelt bewusst."
Sieben Jahre später begann dieses Bewusstsein zu schwinden. Matthias Roser ahnte nichts, als ihn Uwe Stuckenbrock, der Leiter des Stadtplanungsamts, einlud, zu Stuttgart 21 Stellung zu nehmen. "In allen offiziellen Dokumenten war damals mit keinem Wort davon die Rede, dass der Bau für den Tiefbahnhof massakriert werden sollte", empört sich der Kunsthistoriker: "Ich war fassungslos, als ich erfuhr, dass man wichtige Teile ernsthaft abreißen wollte." Für den geplanten Tiefbahnhof Stuttgart 21 sollen bekanntlich die beiden schmalen Flügel entlang der Gleisanlagen fallen. Der kurze Nordflügel ist bereits geschleift, der längere Südflügel steht vor dem Abriss. Der Großteil der Anlage soll bestehen bleiben.
Eine Petition an den Bundestag bleibt unbeantwortet
Roser betrieb seit 1998 ein Büro für Hausrenovierungen – ganz wie ein Architekt, aber mit Akzent auf dem schonenden Umgang mit der Substanz. Er war, wie er selbst sagt, "beruflich sehr eingespannt". Doch der Umgang mit dem Bahnhofsbau widersprach all seinen Prinzipien. Bei einer Bürgerversammlung am Killesberg sprach er OB Wolfgang Schuster und Baubürgermeister Matthias Hahn an. Er erließ einen Aufruf "Rettet den Hauptbahnhof" und gab "ein Vermögen an Porto und Zeit" für eine Unterschriftenaktion aus. Rückblickend stellt er fest: "Ich habe gemerkt, dass sich die Schlinge immer enger zieht und dass man das noch einmal auf einer anderen Ebene aufziehen muss."
Als ihm Ulrich Krings, Denkmalpfleger aus Köln und Spezialist für Bahnhöfe, 2008 am Telefon vorschlug, eine Arbeitsgemeinschaft zu gründen, war sein erste Reaktion: "Nicht auch das noch." Der gemeinsame Aufruf stieß "in sehr kurzer Zeit auf sehr starke Resonanz, vor allem aus dem Ausland". Zu den Unterzeichnern gehörten weltberühmte Architekten wie Richard Meier, Robert Venturi, Denise Scott Brown, David Chipperfield, Ricardo Bofill oder Günter Behnisch; Wolfgang Voigt und Winfried Nerdinger, stellvertretender Direktor und Leiter der beiden wichtigsten deutschen Architekturmuseen; die Vorsitzenden der Bundesstiftung Baukultur und der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, Michael Braum und Gottfried Kiesow; und der frühere Präsident des Landesdenkmalamts, August Gebeßler.
Seitdem gibt es eine dreisprachige Internetseite, die den Bau, seine Geschichte und den Aufruf dokumentiert, den inzwischen 700 Fachleute aus aller Welt unterschrieben haben. 5000 Menschen zeichneten Rosers Petition an den Deutschen Bundestag, die bis heute unbeantwortet bleibt. 2009 appellierten Mitglieder des International Council on Monuments and Sites (Icomos), ein beratendes Gremium der Unesco, an die Bundeskanzlerin, den baden-württembergischen Ministerpräsidenten und den Stuttgarter Oberbürgermeister, die Aufnahme des Bahnhofs in die Weltkulturerbe-Liste zu beantragen.
Wie Stuttgart mit seinem Erbe umgeht? Gar nicht.
Was ist so besonders am Stuttgarter Hauptbahnhof? Dem Architekten Paul Bonatz steht Roser durchaus kritisch gegenüber. Bonatz sei einer gewesen, der immer mit der Macht ging. Der Bahnhof steht für Roser wie ein "Sinnbild seiner Zeit" mit einem Bein noch im Königreich Württemberg, mit dem anderen in der Weimarer Republik. Seine herausragende Qualität liegt für ihn darin, wie er sich in das Stadtbild einfügt und dieses definiert, indem er die Talrichtung respektiert, Blickpunkte schafft, Platzsituationen ausbildet und auf seine Umgebung reagiert, ohne sich trotz seiner enormen Dimensionen in den Vordergrund zu drängen: Die Lautenschlagerstraße, der Zeppelinbau – auch der Hindenburgbau, der selbst nicht von Bonatz stammt – seien das Ergebnis seiner stadtplanerischen Überlegungen: keine Monokultur, ein großer Wurf.
Wie Stuttgart mit seinem Erbe umgeht, darauf hat Roser nur eine vernichtende Antwort: "Gar nicht." Die Stadt habe sich nie gefragt: Was bin ich? Dass es hier, angefangen mit Theodor Fischer, mit Bonatz, Paul Schmitthenner und Martin Elsaesser bis hin zu Rolf Gutbrod und Günter Behnisch eine Architekturlehre gab, die in den 1920er-Jahren in Deutschland führend war, bleibe ausgeblendet: "Die Stuttgarter Schule findet in der offiziellen Geschichtsschreibung nicht statt."
Doch sein bevorstehender Wegzug von Stuttgart, beteuert der Architekturhistoriker, "hat mit Stuttgart 21 rein gar nichts zu tun". Er erfülle sich einen "alten persönlichen Wunsch" und ziehe sich in ein Dorf in Frankreich, und zwar im Burgund zurück. Er habe sich 28 Jahre lang, zeitweise nur wenig, zum Teil aber auch "an den Grenzen des Leistbaren" für den Bonatzbau engagiert: "Nun müssen andere weitermachen", die es zum Glück auch gebe, wie den ehemaligen Oberkonservator am Landesdenkmalamt, Norbert Bongartz. Eines hebt Roser zum Schluss ungefragt hervor: "Wie in den letzten Jahren in Stuttgart Menschen unterschiedlichster Art zusammengekommen sind, um sich für ihre Stadt einzusetzen: dies hat erstmals eine Vision entstehen lassen, wie eine gelebte Demokratie funktionieren kann, die auf eine Parteienherrschaft, wie wir sie haben, verzichten kann."
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Gottfried Roser
am 09.03.2014