Die Szenen in Berlin hätten kaum symbolträchtiger sein können. Vor dem Kanzleramt formiert sich am 15. Oktober der Protest gegen Gier, die Bankenmacht und eine Politik, die ohnmächtig jahrelang die moralfreien Kasino-Kapitalisten zocken ließ. 10 000 Demonstranten sind auf den Beinen, darunter viele junge Menschen. Die Fernsehkameras sind in Position, die Mikrofone aufgestellt, die Notizblöcke gezückt. Die Medien stürzen sich auf die neue Occupy-Bewegung, ganze Journalistentrupps halten laute Szenen und Parolen fest, führen Interviews mit Protagonisten, Fotoapparate klicken im Sekundentakt. In den TV-Nachrichten, Rundfunksendungen und Blättern wird die neue Empörung groß gespielt. Sie taugt zum Aufmacher und für fette Schlagzeilen.
Kaum zwei Kilometer vom Occupy-Protesttrubel entfernt präsentieren sich am selben Tag Engagierte: Organisatoren von sozialen oder ökologischen Projekten in verschiedenen Städten und Gemeinden der Republik, Initiatoren von Selbsthilfegruppen, Nachbarschaftshilfen oder Schülerbetreuung, Vertreter von Vereinen und Organisationen, die sich auf unterschiedliche Weise bürgerschaftlich engagieren. Es sind Freiwillige, ehrenamtlich Aktive. 2011 ist das Europäische Jahr der Freiwilligentätigkeit, ausgerufen von der EU-Kommission. Und hier in Berlin findet die zentrale deutsche Veranstaltung dazu statt. Sie ist mehrtägig, der Ort klingt spektakulär: das Sony-Center am Potsdamer Platz.
Doch die Präsentation bürgerengagierter Arbeit in Deutschland erfolgt auf engem Raum. Dicht an dicht stehen die Tische und Stellwände der verschiedenen Organisationen. Besucher verirren sich an diesem Tag nur selten hierher, Touristen hasten achtlos vorbei. Und von Journalisten fehlt jede Spur. Diese Engagierten bleiben weitgehend unter sich.
Engagieren bedeutet handeln, nicht nur reden
Zwei völlig verschiedene, getrennte Welten, so scheint es. Der krasse Kontrast beider Szenen steht für die momentane Situation in diesem Land. Präsent und dominant, in der öffentlichen Wahrnehmung, ist der Protest, die Gegenposition oder gleich die "Revolution", wie sie von besonders empathischen Demonstranten oft und gerne beschworen wird. Stuttgart 21 steht paradigmatisch für diesen Bruch mit bestehenden Machtrealitäten – und den Aufbruch hin zur Veränderung, zu mehr Mitsprache, mehr direkter Demokratie. Daher hat Baden-Württemberg inzwischen das respektable Etikett eines "Versuchslabors" bekommen.
Die noch junge Occupy-Bewegung, zu der sich in Stuttgart auch etliche S-21-Gegner gesellt haben, setzt diese regionale Entwicklung einerseits fort. Andererseits hat sie, allein schon in ihrer politischen Geografie, einen deutlich weiteren, nahezu globalen Ansatz und Zuschnitt. Es geht um die politische und gesellschaftliche Zukunft ganzer Länder: Ist dieser Turbokapitalismus mit all seinen absurden Auswüchsen noch zu bändigen, oder beherrscht die Finanzwelt alles, nicht nur die wirtschaftliche Existenz von Staaten, sondern das Leben, Schicksal und Denken der Bürger? Das sind ganz essenzielle Gründe, auf die Straße zu gehen und aufzubrechen.
Das "Empört euch!" ist also in Deutschland längst angekommen. Wie aber steht es mit dem Engagieren, zu dem der ehemalige Résistance-Kämpfer und Buchenwald-Überlebende Stéphane Hessel aufruft? Engagieren bedeutet handeln, nicht nur reden, diskutieren oder streiten. Natürlich handelt jemand, der sich auf den Protest-Weg macht, sich einer Bewegung anschließt, Demonstrationen mitorganisiert oder besucht. Und er kann und wird sagen, dass er sich damit engagiert, sich einsetzt für eine wichtige Sache.
Künstliche Trennung von Protest und Engagement
Warum aber werden Menschen, die sich im Alltag individuell engagieren, indem sie als Ehrenamtliche – oft zum Nulltarif – anderen Menschen helfen und in verschiedensten Bereichen sozial agieren, in dieser (Medien-)Gesellschaft viel weniger oder zuweilen gar nicht wahrgenommen? Ein maßgeblicher Grund dafür liegt in einem groben Missverständnis, das insbesondere für das Denken in Deutschland typisch zu sein scheint: Das politische Engagement, das sich besonders laut und griffig im Protest zeigt, gilt hierzulande weithin als etwas völlig anderes als der stille soziale Einsatz von Freiwilligen. Dabei gehört beides zusammen wie zwei Seiten eines Blatts Papier.
Man muss nicht unbedingt den guten alten Aristoteles und dessen Denkansatz bemühen, wonach der Mensch ein soziales, nach Gemeinschaft strebendes Wesen und damit per se politisch ist. Es liegt in ganz konkreter Hinsicht auf der Hand: Wer bürgerengagiert handelt, indem er zum Beispiel in Vesperkirchen Essen an alte Menschen, Langzeitarbeitslose, Alleinstehende und Obdachlose verteilt, Nachbarschaftshilfe betreibt, Kinder betreut, damit deren alleinerziehende Mütter arbeiten können, oder sich um kranke oder aus der Bahn geworfene Menschen kümmert, gestaltet aktiv soziale Realität mit. Und verändert sie auch. In alldem steckt ein enormer politischer Einsatz. Denn: Freiwilligenarbeit prägt und fördert den Zusammenhalt und die humane Entwicklung einer Zivilgesellschaft. Kein Staat der Welt wäre in der Lage, die im Ehrenamt geleistete Arbeit zu bezahlen – und kommt doch ohne sie nicht aus.
Reist man durch Europa, stellt man rasch fest, wie künstlich die in Deutschland bislang übliche Trennung von politischer Partizipation und bürgerschaftlichem Engagement ist. In Griechenland etwa, wo es derzeit bei vielen Menschen ums nackte Überleben geht, beteiligen sich Studenten an neuen direktdemokratischen Partizipationsprojekten, protestieren und diskutieren abends über die Zukunft ihres Krisenlandes – tagsüber betreuen sie Flüchtlingsfamilien aus Afghanistan oder dem Irak. Sie verstehen ihre Freiwilligenarbeit, natürlich, als etwas Politisches, genauso wie ihren Protest und ihre Empörung über die Athener Machtpolitik der vergangenen Jahre. Gerade in diesen eklatanten Krisenzeiten brechen junge Menschen auf und engagieren sich – in diesem doppelten Sinne des Wortes.
Junge Menschen leisten weniger Freiwilligenarbeit
In Deutschland dagegen stellen Pioniere und Experten des Bürgerengagements, ob wie jüngst in einer Diskussionsveranstaltung im Degerlocher Rathaus oder bei der Präsentation in Berlin, einen anderen Trend fest. 36 Prozent der Bevölkerung sind ehrenamtlich aktiv, die bundesweite Quote ist respektabel, sie stagniert allerdings. Was jedoch besonders ins Auge sticht: der Anteil junger Menschen in der Freiwilligenarbeit ist rückläufig. Sie zu dieser individuellen Form von Engagement zu bewegen scheint schwieriger geworden zu sein.
Ein inzwischen größerer Zeitaufwand in Schule, Lehre oder Studium mag dafür ein Grund sein. Gut möglich aber, dass es auch und besonders an jenem groben Missverständnis liegt, das in dieser Gesellschaft gepflegt wird. Protest, Demos, Empörung, neue Bewegungen sind "in", angesagt, "sexy", attraktiv, politisch effektiv – attraktiver und politisch effektiver offenbar, als sich in einem konkreten sozialen Projekt wöchentlich oder gar täglich zu engagieren, auch noch zum Nulltarif. Medien, die gerne die lauten und viel weniger die stillen Themen mögen, transportieren und zementieren diesen nur scheinbaren Gegensatz.
Eigentlich fatal. Denn wer sich handelnd engagiert, zum Wohle benachteiligter Mitbürger, hat beste Argumente, wenn er politisch aktiv wird oder ist. Seine Kritik oder sein Protest wirken besonders authentisch, weil er nicht nur redet oder streitet, sondern sich konkret engagiert, damit etwas für die Polis, das Gemeinwesen tut und selbst etwas verändert. Von dem gängigen Missverständnis, dass Protest und politische Partizipation das eine, bürgerschaftliches Engagement das andere sei und zwischen beidem Welten lägen, profitiert bislang vor allem die herrschende Politik.
Regierung trägt Mitverantwortung für den Raubtierkapitalismus
Die Bundesregierung betont ihr "Verständnis" für die neue Protestbewegung gegen Gier und Bankenmacht, man nehme sie sehr ernst. Genauso wortreich betont sie regelmäßig, wie überaus wichtig die ehrenamtliche Arbeit engagierter Bürger sei, gerade im sozialen Bereich. Beides sind grandiose Lippenbekenntnisse. Denn die Regierungspolitik trägt eine veritable Mitverantwortung dafür, dass der Raubtierkapitalismus nicht eingedämmt wurde. Und: wenn bürgerschaftliches Engagement für dieses Gemeinwesen so eminent wichtig ist, warum findet die zentrale Veranstaltung im Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit dann versteckt im Berliner Sony-Center statt und nicht im Kanzleramt? Eigentlich ein Skandal. Doch Hand aufs Herz: wer von den Empörten würde sich bislang über eine solch geringe Wertschätzung der Engagierten aufregen?
Grün-Rot in Baden-Württemberg will erklärtermaßen einen neuen, anderen Weg gehen: Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung – in der Verbindung beider Bereiche liegt die Programmatik und Zielsetzung der Landesregierung. Dafür steht das neu geschaffene Amt der Staatsrätin Gisela Erler. Ein so wichtiger wie notwendiger Schritt, um Empörte und Engagierte in einem Kontext zu sehen.
Klar ist freilich auch: es ist ein verdammt dickes Brett, das Gisela Erler und ihr Team zu bohren haben.
1 Kommentar verfügbar
Shoobidoo
am 06.11.2011