Völlig bescheuert, um das mal deutlich zu sagen.
Die Kinder sind monatelang daheim gehockt, mit Homeschooling, Langeweile, Einsamkeitsgefühl, Bewegungsmangel. Da muss man doch überlegen, wie hole ich die ab! Sie müssen gar nicht psychisch krank sein, aber in einem Jahr tut sich bei Kindern und Jugendlichen unheimlich viel. Ein Junge gerät in den Stimmbruch, nur als Beispiel. Und dann müssen sie doch wieder miteinander warm werden. In der Arbeitswelt würde man sagen, die brauchen jetzt Team-Building. Dauernd war die Rede von Lernrückstand, Lernrückstand, Lernrückstand. Klar muss ich auf die Lernrückstände achten, aber ich muss doch überlegen, wie ich die Lehrpläne entrümpeln kann. Wie hole ich die Kinder emotional ab, wo sie gerade sind? Mit Projekten vielleicht, Bewegung ist total wichtig – mach' ich vielleicht erstmal einen Sporttag?
Oder Schullandheim.
Egal was, einfach Dinge, damit sie wieder Lust bekommen, zu lernen. Gerade die Gestaltung von Übergängen ist im Kindes- und Jugendalter extrem wichtig. Da braucht es haltgebende Strukturen. Dann berappeln sich die Kinder auch.
In diversen Studien ist zu lesen, dass psychische Probleme von Kindern zunehmen. Brauchen wir mehr Therapieplätze oder eine andere Gesellschaft? Was müssen denn Kinder alles aushalten?
Das ist immer die Gretchenfrage. Nehmen die Erkrankungen zu oder schauen wir endlich genauer hin? Ich glaube, wir schauen genauer hin. Was ja gut ist. Andererseits leben wir in einer Welt, wo alles möglich ist, die Komplexität nimmt zu. Die Schwierigkeiten, sich für etwas zu entscheiden, werden mehr. Das ist eine große Chance, aber auch eine große Herausforderung. Auf vielen Jugendlichen liegt so ein diffuser Druck. Wir leben in einer Performance-Welt und du musst gut performen. Wer das nicht gut kann, tut sich schwer.
Ich bin gottfroh, dass es in meiner Jugend kein Instagram gab.
Und dann kommt noch was dazu. Noch nie hat eine Generation ein so gutes Verhältnis gehabt zu den Eltern wie jetzt. Das ist toll, aber Kinder und Jugendliche brauchen auch ein klares Gegenüber, um sich zu reiben und daran zu wachsen. Ich ärgere mich immer, wenn von Spielsucht die Rede ist. Kein Zehnjähriger kann sich ein iPhone kaufen. Das wird ihm gekauft. Und dann denke ich, muss es eine Auseinandersetzung mit dem Kind darüber geben, was es darf. Das ist Erziehung, da wird man nicht unbedingt dafür geliebt. Das soll jetzt kein Eltern-Bashing sein, aber den Kindern zu sagen, sie haben eine Computerspielsucht und immer neue Störungen zu erfinden, halte ich für schwierig. Eltern wollen Freunde von ihren Kindern sein, aber Eltern sind halt keine Freunde, sondern Eltern. Und andererseits wurde – siehe Homeschooling – von Grundschülern eine Selbstorganisation verlangt, die sie nicht leisten können.
Aus welchen Milieus kommen denn Ihre Patienten?
Aus allen. Aus schwierigen Familien, aus gut situierten Familien, Flüchtlingskinder. Wir hatten während Corona unabhängig voneinander beispielsweise fünf Notfallvorstellungen von GymnasiastInnen an einem Tag. Leistungsstarke SchülerInnen. Die nehmen sich zu Herzen, ob sie das nächste Jahr schaffen. Das zeigt den hohen Stress durch ungefilterten Schuldruck.
Was denken Sie, würde helfen?
Es bräuchte eine durchgängig wertschätzende Haltung wie: "Leute, wir kriegen das schon hin." Die SchülerInnen, die nächstes Jahr vor Prüfungen stehen, müssten die Gewissheit haben, dass die Corona-bedingten schulischen Einschränkungen Berücksichtigung finden. Da geht es nicht darum, dass SchülerInnen das Abitur oder die Mittlere Reife "geschenkt" wird.
Sie haben an anderer Stelle gesagt, Kinder sind die Helden der Pandemie. Das klingt sehr schön.
Ich meine das auch so. Weil sie das alles so heroisch erlitten haben. Und man kann sagen, es wird Zeit, dass sie mehr zu Wort kommen. Das haben die Kinder verdient. Aber es fällt schwer, weil sie eben Kinder sind. Vielleicht sollten die Kinder und Jugendlichen eine eigene Schülergewerkschaft gründen.
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