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Kinderseelen

Kleine Helden

Kinderseelen: Kleine Helden
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Gunter Joas ist Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Esslingen. Kürzlich hat er sich in der Zeitung beklagt, dass es viel zu wenige Psychiatrieplätze für Kinder gibt. Ein Gespräch über die wahren Helden der Pandemie, die dauernd für die Interessen von Erwachsenen herhalten müssen.

Herr Joas, ich habe mich kürzlich sehr über Sie geärgert. Kinder waren in dieser Pandemie andauernd Verhandlungsmasse. Kinder, die Großeltern nicht besuchen durften, wurden in Stellung gebracht. Schule auf oder Schule zu, prima Thema im Landtagswahlkampf, immer wurden Kinder vorgeschoben für Interessen der Erwachsenen. Und jetzt kommen Sie und erzählen der "Stuttgarter Zeitung", wegen der Pandemie würden die Notaufnahmen wegen Selbstmordgedanken bei Kindern und Jugendlichen zunehmen und deshalb brauchen Sie mehr Behandlungsplätze.

Ja, die Lage in den Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie ist extrem angespannt. Ich bin sehr froh, dass das Thema nun auch von der Politik aufgegriffen worden ist.

Aber liegt das wirklich an Corona?

Ich will keine Corona-Katastrophisierung betreiben. Schon vor Corona waren die Stationen überbelegt. Wir hier in Esslingen haben drei Stationen: die Kinderstation und die beiden Jugendstationen. Die haben im Juni 2015 eröffnet mit 26 Plätzen. Bereits nach einer Woche waren die Stationen zu 100 Prozent belegt und seitdem lagen wir immer darüber. Da setzt sich jetzt Corona noch drauf mit einer Zunahme von Notfällen. Das ist die Situation in allen Kinder- und Jugendpsychiatrien in Baden-Württemberg. Das liegt auch daran, dass Baden-Württemberg mit der Ausstattung von stationären Betten im letzten Drittel liegt im Bundesvergleich.

Warum ist das so?

Psychiatrie, vor allem Kinder- und Jugendpsychiatrie, ist ein Tabu-Thema. Psychisch kranke Kinder haben keine Lobby. Auch betroffene Eltern melden sich nicht aktiv zu Wort, weil das Thema schambehaftet ist. Bei Kinder- und Jugendpsychiatrie denken alle an Kinder hinter Gittern. Das ist totaler Quatsch. Deshalb sage ich immer, vielleicht sollten wir uns umbenennen in "Junges Leben" oder so, vielleicht wäre es dann anders. Was würde ein Herzinfarkt-Patient sagen, wenn er vier Monate auf eine stationäre Behandlung warten müsste.

Gibt es zu wenige Therapeuten für Kinder?

Wir haben viel zu wenig Plätze, die Stationen laufen ständig voll. Wir haben zwar vom Sozialministerium 4 Betten mehr bewilligt bekommen, aber es ist egal, ob ich 26 plus 4 überbelegt habe oder 30 budgetiert, wir haben keine Puffer. Außerdem gibt es zu wenig akuttherapeutische Angebote, weil es zu wenig niedergelassene Kinder- und JugendpsychiaterInnen gibt. Wir haben zwar eine Ambulanz hier, aber der nächste Regeltermin ist Anfang Dezember.

Das klingt nicht gut.

Es geht nicht darum, die Kinder zu psychiatrisieren, sondern darum, ein niederschwelliges Angebot zu machen. Kinder und Jugendliche verfügen eigentlich über eine gute Resilienz, also eine gute psychische Widerstandskraft. Aber die Ressourcen in vielen Familien sind aufgebraucht. Wir haben monatelange Wartezeiten für einen regulären Behandlungsplatz. Da kann es vorkommen, dass es während des Wartens zu Notfallvorstellungen kommt. Also ein möglicher Teufelskreis. Stand heute hat unsere Klinik 108 Kinder und Jugendliche auf der Warteliste.

Bei Erwachsenen ist das ja ganz ähnlich. Woran liegt das? Ist der Beruf nicht attraktiv genug?

Wir leben in einer Leistungsgesellschaft und in einer Performance-Welt. Gerade in Baden-Württemberg gilt: "Schaffe, schaffe Häusle baua." Immer noch mangelt es in der Gesellschaft an Verständnis für psychische Erkrankungen. Das mag dazu führen, dass Betroffene zu lange warten, bis sie sich Hilfe holen. Das hat vermutlich auch mit einem bestimmten Arbeitsethos zu tun. Psychische Erkrankungen werden sehr schnell mit einem persönlichen Versagen gleichgesetzt. Ich finde, es ist ein toller Beruf. Allerdings ist es schon so, dass die "sprechende Medizin" im Vergleich weiterhin schlechter honoriert wird.

Denken Kinder wirklich öfter an Selbstmord wegen Corona?

Sie kommen einfach an den Rand. Die Wenigsten wollen wirklich tot sein, sondern ihre als unaushaltbar empfundene Situation beenden. Diese suizidalen Krisen haben in den letzten Monaten bei uns zugenommen. Diese Kinder haben wir aufgenommen. Meistens nur zwei, drei Tage, zum Glück, dann konnten wir sie stabilisieren. Wir haben vermehrt Depressionen, Angststörungen, Zwangsstörungen und Essstörungen festgestellt. Bei den Kleineren haben wir regressive Verhaltensweisen gesehen, das heißt, sie wollten nicht mehr alleine schlafen, hatten Trennungsangst.

Woher kommt das?

Wenn so eine diffuse Situation herrscht, wie jetzt bei Corona, versuchen Kinder, sich selbst Sicherheit zu geben – da können sich Kontrollzwänge entwickeln. Die Kontrollzwänge sind ein Lösungsversuch, um die inneren Ängste einzugrenzen und sich mehr Sicherheit zu verschaffen. Ich kenne ein Mädchen, das vor dem Ins-Bett-Gehen immer unterm Bett gucken musste, was da ist. Und Corona war der Booster, das Ritual hat sich immer mehr aufgebaut. In diesem Fall ist man kreativ damit umgegangen, das fand ich super. Sie hat ein neues Bett mit Schubfächern, jetzt kann sie selber entscheiden, was unterm Bett ist. Wenn man so etwas früh erkennt, kann man leichter etwas dagegen tun. Deshalb brauchen wir einfach mehr Behandlungsmöglichkeiten. Ich will nicht negativ sein, aber ich frage mich, wie viele Kinder demnächst ein schulvermeidendes Verhalten zeigen werden. Da brauchen wir dann auch für die Schulen ein paar zündende Ideen.

Die waren ja Mangelware in der letzten Zeit. Der Umgang mit der Pandemie in Schulen war nicht gerade mit Kreativität gesegnet.

Gerade zum Ende des Schuljahrs haben sich viele Kinder gefreut, wieder in die Schule gehen zu können. Und was passiert? Da werden sie teilweise mit vier Klassenarbeiten in der ersten Woche empfangen.

Völlig bescheuert, um das mal deutlich zu sagen.

Die Kinder sind monatelang daheim gehockt, mit Homeschooling, Langeweile, Einsamkeitsgefühl, Bewegungsmangel. Da muss man doch überlegen, wie hole ich die ab! Sie müssen gar nicht psychisch krank sein, aber in einem Jahr tut sich bei Kindern und Jugendlichen unheimlich viel. Ein Junge gerät in den Stimmbruch, nur als Beispiel. Und dann müssen sie doch wieder miteinander warm werden. In der Arbeitswelt würde man sagen, die brauchen jetzt Team-Building. Dauernd war die Rede von Lernrückstand, Lernrückstand, Lernrückstand. Klar muss ich auf die Lernrückstände achten, aber ich muss doch überlegen, wie ich die Lehrpläne entrümpeln kann. Wie hole ich die Kinder emotional ab, wo sie gerade sind? Mit Projekten vielleicht, Bewegung ist total wichtig – mach' ich vielleicht erstmal einen Sporttag?

Oder Schullandheim.

Egal was, einfach Dinge, damit sie wieder Lust bekommen, zu lernen. Gerade die Gestaltung von Übergängen ist im Kindes- und Jugendalter extrem wichtig. Da braucht es haltgebende Strukturen. Dann berappeln sich die Kinder auch.

In diversen Studien ist zu lesen, dass psychische Probleme von Kindern zunehmen. Brauchen wir mehr Therapieplätze oder eine andere Gesellschaft? Was müssen denn Kinder alles aushalten?

Das ist immer die Gretchenfrage. Nehmen die Erkrankungen zu oder schauen wir endlich genauer hin? Ich glaube, wir schauen genauer hin. Was ja gut ist. Andererseits leben wir in einer Welt, wo alles möglich ist, die Komplexität nimmt zu. Die Schwierigkeiten, sich für etwas zu entscheiden, werden mehr. Das ist eine große Chance, aber auch eine große Herausforderung. Auf vielen Jugendlichen liegt so ein diffuser Druck. Wir leben in einer Performance-Welt und du musst gut performen. Wer das nicht gut kann, tut sich schwer.

Ich bin gottfroh, dass es in meiner Jugend kein Instagram gab.

Und dann kommt noch was dazu. Noch nie hat eine Generation ein so gutes Verhältnis gehabt zu den Eltern wie jetzt. Das ist toll, aber Kinder und Jugendliche brauchen auch ein klares Gegenüber, um sich zu reiben und daran zu wachsen. Ich ärgere mich immer, wenn von Spielsucht die Rede ist. Kein Zehnjähriger kann sich ein iPhone kaufen. Das wird ihm gekauft. Und dann denke ich, muss es eine Auseinandersetzung mit dem Kind darüber geben, was es darf. Das ist Erziehung, da wird man nicht unbedingt dafür geliebt. Das soll jetzt kein Eltern-Bashing sein, aber den Kindern zu sagen, sie haben eine Computerspielsucht und immer neue Störungen zu erfinden, halte ich für schwierig. Eltern wollen Freunde von ihren Kindern sein, aber Eltern sind halt keine Freunde, sondern Eltern. Und andererseits wurde – siehe Homeschooling – von Grundschülern eine Selbstorganisation verlangt, die sie nicht leisten können.

Aus welchen Milieus kommen denn Ihre Patienten?

Aus allen. Aus schwierigen Familien, aus gut situierten Familien, Flüchtlingskinder. Wir hatten während Corona unabhängig voneinander beispielsweise fünf Notfallvorstellungen von GymnasiastInnen an einem Tag. Leistungsstarke SchülerInnen. Die nehmen sich zu Herzen, ob sie das nächste Jahr schaffen. Das zeigt den hohen Stress durch ungefilterten Schuldruck.

Was denken Sie, würde helfen?

Es bräuchte eine durchgängig wertschätzende Haltung wie: "Leute, wir kriegen das schon hin." Die SchülerInnen, die nächstes Jahr vor Prüfungen stehen, müssten die Gewissheit haben, dass die Corona-bedingten schulischen Einschränkungen Berücksichtigung finden. Da geht es nicht darum, dass SchülerInnen das Abitur oder die Mittlere Reife "geschenkt" wird.

Sie haben an anderer Stelle gesagt, Kinder sind die Helden der Pandemie. Das klingt sehr schön.

Ich meine das auch so. Weil sie das alles so heroisch erlitten haben. Und man kann sagen, es wird Zeit, dass sie mehr zu Wort kommen. Das haben die Kinder verdient. Aber es fällt schwer, weil sie eben Kinder sind. Vielleicht sollten die Kinder und Jugendlichen eine eigene Schülergewerkschaft gründen.


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