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Leben im Tiny House

Die schnuckelige Selbstverzwergung

Leben im Tiny House: Die schnuckelige Selbstverzwergung
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Harry Potter heiratet seine Besenkammer: Sich mit beengenden Verhältnissen zu arrangieren, liegt schwer im Trend. Doch wer mit dem Tiny House Frieden schließt, hat die Menschheit aufgegeben.

Ist die Wohnungsnot Geschichte? Zumindest ist in der "Wirtschaftswoche" von immer mehr Menschen zu lesen, die sich weltweit den "Traum vom Eigenheim" erfüllen. Juhu, jetzt wohnen bestimmt alle schöner! Mit hohen Decken, Parkettboden, Minimum, außerdem Möbel aus Massivholz, ein traumhafter Ausblick und dann noch ein kleiner See vor der Haus, hoffentlich. Aber wie kommt's? Sind Grundstücke wieder bezahlbar? Oder die Baupreise gesunken? Hat der Staat etwa Regelungen gegen die Spekulation mit Lebensraum durchgesetzt?

Natürlich nicht. Die Rede ist nur vom Tiny House, der Heim gewordenen Sardinenbüchse, die sich vor allem, aber nicht nur in den USA "immer größerer Beliebtheit erfreut" – insbesondere seitdem fast zehn Millionen Menschen durch die Finanzkrise von 2008 zur Zwangsversteigerung ihrer Immobilien genötigt wurden. Doch eine erfolgreiche Wirtschaft verdient an den Problemen, die sie hervorbringt. Sodass die Minihäuser, wie die "Wirtschaftswoche" berichtet, "manch einen vor der Obdachlosigkeit gerettet" haben. Und bevor massenweise Menschen auf der Straße landen, ist es in einer reichen Gesellschaft vorzuziehen, wenn neue Marktsegmente erschlossen werden.

Wie gewiefte DesignerInnen sich von verwahrlosten Wohnwagensiedlungen inspirieren lassen, um das Mode-Angebot mit "White Trash Fashion" zu bereichern, deren Kostenpunkt meist das Monatsgehalt der im Elend Versinkenden übertrifft, an deren Stil sie sich bedienen, so gelingt es auch der Tiny-House-Industrie eine der Armut entsprungene Idee erfolgreich zu kapitalisieren. Beim Schmackhaftmachen wird sie dabei unterstützt von einem als Presse getarnten Hilfsnetzwerk, das, vermutlich ohne sich seiner Rolle bewusst zu sein, den Verkauf der Wohnungen für Winzlinge mit wohlwollenden Berichten ankurbelt und es zur Tugend verklärt, sich in beengende Verhältnisse einzurenken.

"Die Idee dahinter" verrät zum Beispiel das Online-Portal "Golem" ohne erkennbares Problembewusstsein: "Wenn Immobilienpreise zu hoch und Baugrundstücke Mangelware sind, müssen halt deutlich weniger Quadratmeter ausreichen – für Singles und Paare ohne Hang zu großem Konsumballast vielleicht eine echte Alternative." Die im Raubtierkapitalismus allgegenwärtige Apologie der herrschenden Verhältnisse macht aus Menschengemachtem ein Naturgesetz: Wenn es so ist, dann muss es eben so sein. Die Wohnkosten steigen nunmal, also gibt es daran nichts zu rütteln – deal with it.

Obdachlose können sich kein Tiny House leisten

Und leider funktioniert das Marketing erschreckend gut: Die Quadratmeterpreise werden ja tatsächlich für immer mehr Menschen unbezahlbar. Also ertappt man auch sich selbst nicht selten bei dem Gedanken, wie lohnenswert es wäre, der Auspressung als Mietobjekt durch eine einmalige Investition auf immer und ewig zu entfleuchen – sogar wenn es bedeuten würde, sich ein Leben lang auf Besenkammergröße einzupferchen.

Doch dieser verwegene Traum scheitert an der Wirklichkeit. Nicht nur fehlt dem guten Drittel der Bevölkerung hierzulande, das jedes Monatsende auf Null rauskommt, das Startkapital für eine winzige Behausung, die in ökologisch korrekter Bauweise mit gut und gerne 120.000 Euro zu Buche schlägt. Selbst wenn es gelänge, eine solche Investition durch womöglich jahrzehntelange Verschuldung irgendwie zu bewerkstelligen, so würde noch immer ein – in aller Regel deutlich teureres – Grundstück fehlen, auf der ein Tiny House unter Berücksichtigung der deutschen Bürokratie platziert werden darf.

Mit etwas Distanz betrachtet entpuppt sich zudem der Mietmechanismus an sich als bodenlose Unverschämtheit, gegen die gar nicht genug polemisiert werden kann. Denn in der Praxis läuft es, anders als vor wenigen Jahrzehnten, in aller Regel so, dass sich insbesondere in den Städten kaum noch jemand den Traum vom Eigenheim durch eigene Arbeit finanzieren kann. Meist wird der nötige Reichtum vererbt oder aber durch Dividenden akquiriert.

Miete fordern ist ganz schön frech

Wenn nun ein ausreichendes Vermögen zusammengekommen ist, um eine vermietbare Immobilie anzuschaffen oder in Aktien solcher Wohnungsunternehmen zu investieren, die schwerbehinderte Rentnerinnen aus ihrem Lebensraum gentrifizieren, um die Rendite ihrer Anteilseigner abzusichern, und zugleich eine zum Mieten genötigte Bevölkerungsmehrheit Monat für Monat so viel Einkommen ausgeben muss, dass sie selbst nie in die Lage kommen wird, ausreichendes Vermögen anzuhäufen, um der Misere zu entfliehen – dann ist sichergestellt, dass die ohnehin schon absurde Dimensionen annehmende Ungleichheit zwischen Arm und Reich weiter auseinanderdriftet. Wer schon hat, dem wird gegeben.

Kostendeckend Räumlichkeiten zu bewohnen, ist das eine. Durch die Wahrnehmung eines unverzichtbaren Grundbedürfnisses für den Maximalprofit ohnehin Bessergestellter herhalten zu müssen, bleibt hingegen eine indiskutable Frechheit. Der Mietmechanismus fungiert in seiner gegenwärtigen Ausformung als gewaltige Umverteilungsmaschinerie von unten nach oben. Wo reihenweise preisgünstige Sozialwohnungen aus staatlicher Hand zu Spottpreisen an Heuschrecken-Hedgefonds verhökert werden, die für die Weitervermietung einen kräftigen Aufschlag verlangen, ist das mindestens fünf-, eher sechsstellige Kosten verursachende Tiny House für Einkommensarme oder gar Obdachlose eher keine Option.

Aber ist es nicht wenigstens sinnvoll, die kleineren Lücken in den immer dichter besiedelten Städten für Wohnraum zu nutzen? Auch dieser Gedanke kann nur einem Kopf entspringen, der sich, nicht besser als Globuli-Fans, auf die quasi-religöse Pseudowissenschaft der neoklassischen Volkswirtschaftslehre verlässt. Aprich: als Mittel gegen Wohnungsnot und explodierende Mieten unter Ausblendung aller empirischen Evidenz einzig auf die Strategie namens "Bauen! Bauen! Bauen!" setzt – in der Annahme, dass sich die Preise am Markt schon auf einem erträglichen Niveau einpendeln würden, wenn nur das Angebot erweitert wird.

Tun sie nur leider nicht, wie bereits diverse Studien festgestellt haben, und Glaubenssätze werden nicht wahrer, wenn man sie andauernd wiederholt. Das Problem ist nicht so sehr, dass es zu wenig Wohnungen gäbe – im Osten der Bundesrepublik stehen Millionen davon leer, die für Ramschpreise verhökert würden, wenn sie denn irgendjemand haben wollte. Das Problem sind eher Zentren, in denen sich der Wohlstand konzentriert und eine Eskalationsspirale aus hohen Einkommen, aber noch schneller steigenden Lebensunterhaltungskosten in Gang ist: bis selbst Wohlbetuchte sich den Aufenthalt in begehrten Großstädten kaum noch leisten können (und Spekulationsblasen platzen), während kollabierende Peripherieregionen ökonomisch immer weiter abgehängt und zunehmend menschenleer werden. Der Markt regelt das schon.

Experte Pedersen hält Ungeziefer vom Hof fern

Statt diese Krisendynamik zu problematisieren, begnügen sich zahlreiche Medien jedoch mit einer Affirmation der gegebenen Zustände, etwa wenn sie, wie die "Stuttgarter Zeitung", vom "großen Leben auf kleinem Raum" berichten und damit nahelegen, dass demütige Bürgerinnen und Bürger durchaus zufrieden sein könnten, wenn sie nur ein wenig kürzer treten – andere schaffen es ja auch.

In gefühlt jedem zweiten Artikel über Tiny Houses kommt zu allem Überdruss auch noch ein Peter Pedersen zu Wort, der über das Wohnen auf engstem Raum zum Beispiel beim NDR, im "Münchner Merkur", in der "Frankfurter Rundschau" oder der "Schwäbischen Zeitung" Dinge verlautbaren lässt wie: "[Es ist] eine ganz neue Hausklasse.", "Sie sind natürlich winterfest und zum Dauerwohnen geeignet." Oder: "Wenn Leute zum ersten Mal vorbeischauen, sind sie überrascht, schweigen und schauen. Dann sagen sie: Mehr braucht kein Mensch." Manchmal wird sogar dazu gesagt, dass Pedersen selbst eifrig Tiny Houses vermietet. Nach Kontext-Recherchen wurde allerdings noch nicht berichtet, dass der Herr Experte in sozialen Netzwerken eifrig Artikel von "Bild", "Tichys Einblick" und "KenFM" verbreitet, die staatlichen Corona-Maßnahmen ebenso skeptisch sieht wie die Klimaschutz-Bewegung, und auf Facebook Bilder seiner Dobermänner zeigt, die "wundervoll alles an Ungeziefer vom Hof" fernhalten. Ob damit Insekten gemeint sind?

Aber immerhin machen Pedersens Ausführungen klar, dass Tiny Houses auch deswegen nur bedingt gegen Wohnungsnot helfen, weil sie häufig gar nicht für den Eigenbedarf angeschafft werden. "Buchungen für Tiny-Houses überholen derzeit Buchungen für Ferienhäuser um Längen", weiß im "Frauenboulevard" – natürlich! – Experte Pedersen. Er hat auch ein paar Ratschläge parat, "wie man mit professioneller Tiny-House-Vermietung stabile Einnahmen generieren kann". Nicht nur, weil sich dadurch Vorteile bei der Steuererklärung ergeben, bilanziert der "Frauenboulevard" begeistert, handle es sich um "ein Modell, das genauer zu betrachten sich also durchaus lohnt". Sondern auch deshalb, "weil eine Übernachtung im Tiny-House ab circa 90-100 € zu Buche schlägt. Billig-Tourismus ist woanders!" Tröterö und Jauchzärä, möchte der Einkommensarme ausrufen. Andererseits haben alle Trottel, die bereit sind, solche Preise für die Selbstverzwergung zu bezahlen, irgendwo verdient, ausgenommen zu werden.


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2 Kommentare verfügbar

  • Lars Bosse
    am 26.08.2021
    Antworten
    Ein sehr schöne, teilweise bissiger Kommentar oder sollte ich "Artikel" schreiben? Egal - er bringt die Menschen zum Nachdeneken, ob ein Tiny House, ein Mobilhaus oder eine andere Form von Mirkohäusern zu ihrem Leben passen. Daher wollen wir über eine virtuelle Messe über diesen Trend informieren…
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