"Wir haben den Roman Jack Londons auf eine freie Weise interpretiert und 'Martin Eden' als ein Fresko genommen, das die Verwerfungen und Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts vorausgesehen hat, ebenso wie seine entscheidenden Themen: das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, die Rolle der Massenkultur, den Klassenkampf", so schreibt der Regisseur Pietro Marcello über seine Adaption der 1909 veröffentlichten Geschichte eines bildungshungrigen Seemanns, und er fährt fort: "Wir stellten uns einen Martin vor, wie er das 20. Jahrhundert durchquert, oder vielmehr eine Verdichtung, eine traumhafte Transposition davon, ohne Zeitgrenzen, nicht länger im Kalifornien des Romans, sondern in einem Neapel, das jede Stadt sein könnte, überall auf der Welt."
Marcellos Version der Martin-Eden-Story nimmt sich also alle Freiheiten. Der Regisseur verfilmt die Vorlage nicht, er interpretiert sie vielmehr, ja, er schreibt sie um und lässt die Geschichte in einer Zeit beginnen, die Jack Londons Held nicht mehr erlebt hat: Vornübergebeugt und angegraut sitzt der alt gewordene Martin Eden an einem Tonbandgerät und spricht eine Art Vermächtnis ins Mikrofon. Und erst jetzt springt der Film zurück in der Zeit, zeigt einen kühnen jungen Martin, der eine Schiffsleiter hochhetzt, zeigt auch immer wieder das scharf geschnittene Gesicht des Schauspielers Luca Marinelli, in dessen Blick der unbedingte Aufstiegswille lodert. Marinelli hat für diese Rolle bei den Filmfestspielen von Venedig den Darstellerpreis erhalten, er trägt den Film und hält ihn auch dann noch zusammen, wenn sich dieser nicht nur in der Fülle seiner Themen, sondern auch in seinen Zeiten und seinen stilistischen Wechseln zu verlieren droht.
Da öffnen sich große, weite, ruhige Landschaftspanoramen. Da wird alles wieder aufgepeitscht und eng geführt und eine Handkamera rast durch die Gassen von Neapel. Da reihen sich Porträts armer Leute aneinander, sehen manche Sequenzen aus wie eine Hommage an den Neorealismus. Da geht es in einer Gießerei zu wie im frühen 20. Jahrhundert, dann hocken da wieder Kinder vor einem Fernsehapparat und schauen Zeichentrickfilme. Und da tauchen auch Metaphern und Symbole auf. Oder gehen als solche unter wie dieses riesige Segelschiff, das an einem Wendepunkt in Martin Edens Karriere majestätisch versinkt. Der Regisseur hat dies nicht selber gefilmt, sondern in einem Archiv gefunden, so wie auch viele andere Szenen. Gleich zu Beginn stürzt er die ZuschauerInnen in eine fulminante Bild- und Tonmontage, in der sich Stummfilmschnipsel von Hafenanlagen, Schiffen, Eisenbahnen und Menschenmassen mit einem pochenden Industrie-Sound verbinden. Es brodelt überall, eine neue Zeit bricht an.
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