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Wo ist Gottschalk?

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In einer Stadt, in der aus heiterem Nachthimmel waffenscheinpflichtige Steinbrocken aus der Bahnhofsfassade stürzen und in tödlicher Höhe eine apokalyptische Lücke reißen, überrascht dich nichts mehr. Allenfalls wundert mich, dass ich die Spuren der Erosion überhaupt wahrgenommen habe. Ein schwarzes Loch mehr oder weniger in unserem Steinhaufenkessel fällt schon lange nicht mehr auf.

Hinzufügen muss ich, dass das schon lange zertrümmerte Baudenkmal nach wie vor Reisenden als Stuttgarter Hauptbahnhof dient. Und vergessen darf ich beim Stichwort Bahnhof keinesfalls, die Zukunftsreklame auf der Homepage von me and all stuttgart zu würdigen. Dieses Unternehmen baut, finanziell gemästet vom Schweinebaron Clemens Tönnies, in der Bahnruine ein Vier-Sterne-Hotel. Originaltext:

"Wir gehen nach Stuttgart! Und zwar in drei gläserne! Etagen, die in den historischen Bonatzbau am Hauptbahnhof integriert werden. Wer dann im Stuttgarter Hauptbahnhof ankommt, kommt auch im me and all stuttgart an. Also fast. Zentraler geht’s definitiv nicht. Und spektakulärer kaum: Die drei Etagen werden nämlich als Glaskubus harmonisch ins historische Bahnhofsgebäude integriert. Auch die Fassaden und alten Schalterhallen bleiben erhalten. Das wird der Hammer und die me and all Lounge riiiesig. Es wird auch ein me and all Businesscenter mit 10 Boardrooms für Meetings für bis zu 12 Teilnehmer geben. On top of all. Wir sind ja jetzt schon ein bisschen geflasht. Und irgendwie können wir auch die Feierabend-Beats in unserer Stuttgarter me and all Lounge schon hören." Zitatende.

Voll geflasht von den Hammer-Beats aus dem gelöcherten Bonatzbau stiefele ich definitiv zentral durch die Augusthitze Richtung Nirgendwo, bis ich am Börsenplatz ankomme. In Zockergeschäften unerfahren, ermittelte ich mit meinem Taschentelefon, was man unter Börsenplätzen versteht: nämlich vorzugsweise Orte, an denen Wertpapiere gehandelt werden (als wichtigstes Beispiel gilt New York).

Donnerwetter, sage ich mir, während am Horizont ein Gewitter heraufzieht, das die restlichen Muschelkalkbrocken aus der Hbf-Fassade reißen und weit genug durch die Luft wirbeln könnte, um mich on top of all zu steinigen. Rein existenziell wähne ich mich ohnehin im Besitz gottverdammter Aktien, die noch tiefer fallen als unsere Bahnhofssteine.

Auf dem Börsenplatz gibt es gar keine Börse. Mit Aktien wird dort nur in üblichen Geldhäusern gehandelt. Etwa in der L-Bank, an deren Rotundenfassade bis heute "Friedrichsbau" steht. So nennt sich das Stuttgarter Varieté in Anlehnung an die historische Bühne, die 1944 ausbrannte. 50 Jahre später wurde in Erinnerung an dieses Haus, in dem Stars wie Josephine Baker, Max Reinhardts Theaterensemble und Häberle und Pfleiderer auftraten, ein neues Friedrichsbau-Varieté eröffnet. Von der Bank später an die Luft gesetzt, spielt das Varieté heute auf der Prag so vor sich hin.

Nach wie vor aber stehen die schwäbischen Humoristen Häberle und Pfleiderer alias Oscar Heiler und Willy Reichert samt dem Hund Napoleon als Bronzefiguren vor der L-Bank. Der Komödiant Heiler hatte noch 1994 bei der Friedrichsbau-Eröffnung mitgewirkt; im Jahr darauf starb er mit 88 Jahren. Reichert & Heiler waren sehr gute, in der ganzen Republik geschätzte Komiker und Schauspieler – alles andere als schwäbische Breimaulblödel, wie sie heute ihr Unwesen treiben. Ich denke, dass einige Sketche von H & P immer noch funktionieren könnten. Ihr trostloses Dasein als Bank-Türsteher ist typisch stuttgarterisch.

Auf dem Börsenplatz finden sich weitere Kunstobjekte, die einen gewissen Reichtum spiegeln und ablenken sollen von der armseligen Kultur des politischen Alltags. Alles über den herrschenden Geist Stuttgarts erzählt in diesem Arrangement mit Springbrunnen Hans-Jörg Limbachs Bronzeplastik "Denkpartner", die früher auch schon auf dem Rotebühlplatz und auf dem Kleinen Schlossplatz geparkt wurde.

Der Kleine Schlossplatz ist übrigens der Ort, an dem der neue OB und sein neuer Ordnungsgehilfe mit BM-Status Kraftmaschinen aufstellen ließen. So wollen sie wie einst mein kommissgestählter Turnlehrer die Energie dynamischer Jugendlicher abbauen nach dem Motto: mehr Muskeln, weniger Masturbation.

Der Glatzkopf namens Denkpartner auf dem nahen Börsenplatz schaut unterdessen in die Welt, als möchte er uns sagen: Wenn in dieser Stadt ausnahmsweise mal einer denkt, dann garantiert ans Geld. Die Börse selbst steht in der Börsenstraße, die früher zur Schloßstraße gehörte und 2006 umgetauft wurde. Schließlich muss jeder Pflasterstein herhalten, den Wirtschaftsstandort Stuttgart aufzuwerten.

Das gilt auch für die Kultur. Als der bekannte Backnanger Straßenfestprediger Nopper neulich in seiner Rolle als Stuttgarter OB über den geplanten Interimsbau der Oper im Off-Szene-Umfeld der Wagenhallen referierte, bestach er mit scharfer Expertise: "Dort ist in den vergangenen 15 Jahren ein einzigartiges Kulturareal entstanden, das für unsere Stadt absolut bedeutend ist. Viele würden so etwas eher in Berlin erwarten als in Stuttgart."

Boah, Berlin. Das Wichtigste für den Weltblick Stuttgarter Wichtigs ist immer der Vergleich mit anderen Städten, egal ob sie fünf- oder zehnmal größer sind als das eigene Dorf.

Als ich Landei erstmals die Börsenstraße sah, hatte ich so etwas natürlich eher in New York erwartet. Schnurstracks packte ich meinen Koffer und landete in der Wall Street. Dortselbst haben die einheimischen Geldsäcke nicht etwa einen bronzenen Denker, sondern einen bronzenen Stier aufgestellt. So ein Bulle hat halt Eier. Drumherum sind zwar die Häuser ein bisschen höher als bei uns, ansonsten aber gibt es keinerlei Unterschied zwischen New York und Stuttgart. In Wahrheit verstrahlt unsere Gemeinde am verbuddelten Nesenbach mehr Weltstadt-Eleganz als jeder Stier.

Auch das kann ich belegen. Unter Beachtung eidesstattlicher Auflagen hat mir jemand aus dem Innenleben der Staatstheater von einem Gala-Auftritt erzählt, den ich als Dokument der Zeitgeschichte weitergeben muss:

Der Herr Oberbürgermeister und seine Frau Gemahlin Gudrun, bekannt auch als Team Nopper, besuchen im Sommer 2021 die Premiere von "Werther" im Stuttgarter Opernhaus. Die Frau Gemahlin wendet sich wissbegierig an das Personal des Hauses, um die Frage des Abends zu klären: Ob denn heute, will sie wissen, auch echte Promis kämen? Etwas verblüfft in der Stadt der Überraschungen, in der die Oper bei Unwetter auch mal ihr Dach verliert, antwortet ein dienstbarer Geist des Theaters: Selbst mit viel gutem Willen sei auf die Schnelle nicht richtig vorstellbar, an wen genau die Frau Gemahlin des Oberbürgermeisters im Fall von, äh, Promis denke. Die Präzisierung folgt prompt: Na, hören Sie mal, sie erwarte Größen wie Frank Elstner und Thomas Gottschalk ...

Nach dem schüchternen Hinweis, dass die beiden TV-Schlachtrösser eher nicht zur Klientel Stuttgarter Opernpremieren gehörten, bohrt die Frau Gemahlin des OB unbefriedigt nach: Ob dann wenigstens Eric Gauthier komme? Der wiederum, als prominenter Protagonist einer Tanzkunst bekannt, die viele eher in Stuttgart als in Backnang erwarten, gibt sich an diesem Abend auch nicht die Ehre. Womöglich ist er in Berlin.

Damit schließe ich meine Nachrichtenbörse in der Erkenntnis, wieder mal erfahren zu haben, wo ich lebe. Doch eher in Stuttgart.


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1 Kommentar verfügbar

  • W. Buck
    am 28.08.2021
    Antworten
    Hallo Herr Bauer,

    Stuttgart mag zwar in vielem provinziell sein, was die S-Bahn angeht, ist diese Stadt anderen Städten (z. B. Berlin) schon seit Jahren meilenweit voraus. Wenn ich in Berlin mit der S- oder U-Bahn zum Hauptbahnhof fahre, wird mir das per Lautsprecher nur in deutsch angesagt. In…
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