Im Sommer 2021, der nach heftigen Klimawirren erst spät begann, schien der Beton am Schlossplatz tatsächlich zu glühen. Junge Menschen lieferten sich auf der Freitreppe ihre Version des republikweit üblichen Weekend-Battle mit den geliebten Cops. Bald darauf wurde nicht die ganze Stadt wie in Kennedys Roman von blasser Berghitze, sondern Stuttgarts zentrale Staffel von Bauzäunen eingekesselt. Die hässlichen Absperrwände vor der Freitreppe zur Verhinderung des Partyfiebers unter Dampfkesseldruck im Pandemie-Lockdown waren ein Signal politischer Manneskraft, gesetzt von Stuttgarts neuen Rathaus-Heroen: einem aus Backnang eingeflogenen OB und einem zugewanderten Ordnungsbürgermeister mit Migrationshintergrund Trossingen. Schon jetzt gelten die beiden als die Glimmer Twins der Stadt. Ihr Sommer-Hit heißt "Mein Freund, der Zaun".
Auf den ersten Blick scheint der militärische Stufen-Plan zur Verdrängung des Bösen am Schlossplatz in keinem Zusammenhang mit den vielen Staffeln zu stehen, die einst in die Wälder und Weinberge führten. Unsereiner wundert sich aber, dass eine Gemeinde, die ihre Treppen als Wahrzeichen preist, ausgerechnet ihr bestes Stäffele mit Barrieren zur Ausgrenzung des internationalen Publikums zustellt.
Ein Versäumnis ist zweifelsohne, dass die Natursteinanlage neben dem weithin geachteten Kunstmuseum bis heute nicht mal einen Namen trägt.
Stuttgarts Panische Treppe
Nach Scharmützeln zwischen jungen Menschen und Polizeikräften wäre es aus Marketinggründen zwingend angebracht, die Stufen am Schlossplatz mit leuchtenden Titeln aufzuwerten. Beispielsweise als Krawall-Staffel. Oder als Radau-Stäffele. Auch Roms weltberühmte Spanische Treppe könnte als Vorbild dienen: Nicht ungeil klänge Panische Treppe. Damit würde die Betonattraktion in der demokratischen Mitte Stuttgarts touristisch sicher so steil gehen wie die Potemkinsche Treppe von Odessa. Mit ähnlich erschütternden Staffelszenen wie in Sergei Eisensteins legendärem Revolutionsfilm "Panzerkreuzer Potemkin" ist in Zukunft ohnehin zu rechnen. Denkbar wäre nach dem Zaunbau zur Wahrung des Dorffriedens auch die lustige Bezeichnung Schutzstaffel oder Schutzschtäffele (auch wenn diese schwäbische Alliteration falsche Assoziationen wecken könnte).
Ich als Stadtspaziergänger bin der stillgelegten Schlossplatztreppe durchaus dankbar. Sofort zog ich los, um frisch und frei im Auf- und Ab-Labyrinth des Kessels herumzustiefeln. Stäffele vermindern laut Manfred Rommel ja nicht nur "erheblich" die "sonst überall lauernde Gefahr, von einem Auto überfahren zu werden". Die schmalen Pfade führen auch in die Stadtgeschichte. Und da einige Treppen in der Geschichtsvergessenheit von Politikern für die sogenannte Erinnerungskultur herhalten müssen, erzählen sie uns auch etwas über die Gegenwart.
Geschichte, die auf der Treppe liegt
Nehmen wir die Georg-Elser-Staffel: Obwohl der Widerstandskämpfer zahlreiche Spuren in Stuttgart hinterlassen hat, wurde sie erst 1999 nach dem 1945 im KZ Dachau ermordeten Hitler-Attentäter benannt. Mit feinem Gespür für die Geschichte widmete ihm die Stadt eine Staffel am Bubenbad in der Nähe der Richard-Wagner-Straße. Die wiederum wurde 1933 von den Nazis so benannt, nachdem sie zuvor Heinrich-Heine-Straße geheißen hatte – zu Ehren des Dichters, der Stuttgart einst in seinem "Wintermärchen" gewürdigt hat: "Ich möchte nicht tot und begraben sein / Als Kaiser zu Aachen im Dome / Weit lieber lebt' ich als kleinster Poet / zu Stukkert am Neckarstrome."
Nach meinem Ausflug zur Elserstaffel fand ich zu Hause ein Buch, das ich leider nie ausgewertet hatte. Es heißt "Drei Leben für das Theater" und handelt von dem Schauspieler, Regisseur und Intendanten Fritz Wisten. "Wenn die Unsterblichkeit des Theaters eines endgültigen Beweises bedürfe", heißt es im Vorwort des großen Schauspielers Martin Benrath, "das Lebenswerk Fritz Wistens könnte ihn liefern."
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Peter Bähr
am 17.06.2021"... Betrachten wir den kreativen Menschen als eine Art ewigen freiwilligen Migranten aus den fernen Gegenden des engagierten…