Wie übel ist das eigentlich: In Deutschland versucht jeden Tag ein Mann eine Frau zu töten, die er angeblich liebt. Alle drei Tage gelingt es. Als wäre das nicht schon schlimm genug, haben wir uns irgendwie daran gewöhnt, dass Zeitungen und andere Medien solche Taten als "Beziehungstat", "Familiendrama", "Liebesdrama" oder "Eifersuchts"- oder "Ehedrama" bezeichnen und damit subtil die Botschaft mitsenden, dass die Frau ja schon irgendwas gemacht haben muss, das ihren Tod zur Folge hatte. Und auch, wenn sich seit einer ganzen Weile – unter anderem durch den Hashtag "Femizid" – rumgesprochen hat, dass solche Zeitungsüberschriften misogyne Verharmlosungen von Mord sind, betiteln immer noch unzählige Medien ihre Berichte über die Tötung einer Frau durch einen vermeintlichen (Ex-)Partner mit ebendiesen schlagzeilentauglichen, suggestiven Überschriften.

Erst neulich veröffentlichte die Berliner Boulevardzeitung B.Z. des Springer-Verlags einen Bericht, bei dessen Lektüre ich wirklich nicht wusste, ob ich schreien oder kotzen will: "Tötete er aus Liebe oder Hass? Mann (84) erschlägt Frau (93) nach 50 Jahren Ehe". Wer jetzt schon die ersten romantisch-morbiden Fantasien darüber entwickelt, ob der alte Mann seine vielleicht schwerkranke Frau von einem langen Leidensweg im gegenseitigen Einvernehmen "erlösen" wollte und in einem finalen Liebesakt handelte, korrigiert seine fliegenden Gedanken eine Zeile später abrupt: "Die Goldene Hochzeit ist noch gar nicht so lange her: Ilona G. (93) schläft, als Peter (84) das Leben seiner Ehefrau beendet. Mit 30 Hammerschlägen zertrümmert er ihren Kopf, schlitzt ihr den Hals auf, sticht ihr ins Herz."
Dann orakelt die B.Z. allen Ernstes in widerlichster Franz-Josef-Wagner-Manier direkt im nächsten Satz: "Es könnte Hass gewesen sein, aber vielleicht war es Liebe ...". Das sind Momente, in denen ich dann vor mich hin orakle, was wohl passiert wäre, wenn die drei Bomben im Axel-Springer-Hochhaus im Mai 1972 nicht entschärft worden wären.
Verkrüppelte Gefühle
Aus Liebe. Liebe ... alles aus Liebe. Da war doch was?! Was ist das für ein Ohrwurm, der sich unkontrolliert aus den Untiefen meines gedanklichen Plattenkellers seinen Weg ins Bewusstsein drückt? Na klar: "Alles aus Liebe" von den Toten Hosen! "Und alles nur (Ohh-Ohh), weil ich dich liebe. Und ich nicht weiß, wie ich's beweisen soll. Komm, ich zeig dir, wie groß meine Liebe ist – und bringe uns beide um." Unzählige Male habe ich den Song als pubertierender Kinderzimmer-Punk vor dem Spiegel dramatisch in meine Bürste gesungen! Dabei ist mir bis heute nie aufgefallen, dass das emotional komplett verkrüppelte und psychisch gestörte lyrische Ich eines Campino hier nicht über Liebe singt, sondern über die Unfähigkeit, seine Gefühle gegenüber einer Geliebten auszudrücken, die in Mord und Selbstmord aus Eifersucht endet. Puh.
Klar, als Teenager habe ich das nicht geschnallt. Bin ich doch in einer Welt groß geworden, in der Liebe eben manchmal ein bisschen weh tat. In der es total normal war, dass viele Jungs ihre Zuneigung Mädchen gegenüber ausdrückten, indem sie gemein zu ihnen waren. Wurden Mädchen von Jungen geärgert, erzählten die Erwachsenen schnell, dass der Junge vielleicht "einfach bloß verknallt" sei und gut. Ich habe es nie erlebt, dass gemeines oder aggressives Verhalten von Mädchen gegen Jungs mit verkappter Zuneigung erklärt wurde. Schon damals wurden die Weichen gestellt: Jungs können halt schwierig Gefühle zeigen. Mädchen lernen, dass Liebe und Gewalt manchmal nicht auseinanderzuhalten sind oder sogar zusammengehören.
Diese gefährlichen Geschlechterrollen reproduzieren sich aber eben nicht nur in der Kindheit von Millionen Mädchen und Jungen – sondern eben auch in der Popkultur und düdeln uns von morgens bis abends aus dem Radio entgegen. Ja, man muss nicht mal ins Bierzelt oder in irgendwelche XXL-Sauf-Tempel nach Mallorca hören, in denen sich Tausende Männer und Frauen in den Armen hängen und Lieder mitsingen, in denen Gewalt gegen Frauen offen abgefeiert wird.
5 Kommentare verfügbar
K. Schulz
am 19.06.2021Es ist ein wesentlicher Teil einer systemischen Ungleichheit, die uns alle beeinträchtigen.