
Ganz prinzipiell: Impfungen sind eine gute Sache. Ohne sie würden wir heute noch von mittelalterlichen Krankheiten befallen werden, die Millionen Todesopfer fordern würden. Muss halt nicht sein. Jetzt sollen sie uns von diesem verdammten Corona-Virus befreien, das uns seit fast zwei Jahren den letzten Nerv raubt. Und die Impfbereitschaft ist hoch trotz zahlreicher Kritik an Impfstoffen, deren Entwicklung und Wirksamkeit. Fast drei Viertel aller Deutschen über 18 Jahren wollen sich laut einer aktuellen Umfrage impfen lassen, da können auch die durchgeknalltesten Telegram-Psychopaten nichts dran ändern. Trotzdem ist die Debatte über das Thema Impfen zu einer kakophonischen Volksoper mit allen Tönen der menschlichen Extremgefühls-Klaviatur pervertiert.
Bis vor zwei Jahren hat sich jeder, vom abgebrannten Philosophie-Studenten bis hin zur gut situierten Unternehmerin vollkommen selbstverständlich jede Plörre reinhauen lassen, die notwendig war für den horizonterweiternden Sri-Lanka-Trip oder Slum-Watching auf den Philippinen – ohne einen Furz auf irgendwelche statistischen Nachkommastellen potentieller Nebenwirkungen zu geben. Rein mit der Impfe und Abflug. Kaum jemand hat sich bis vor einem Jahr dafür interessiert, welche Impfungen seit der Kindheit im eigenen Impfpass vermerkt wurden. Viele suchen ihn bis heute. Und jetzt: Impfterror auf allen denkbaren Kanälen.
Wer ein Smartphone oder einen PC bedienen kann, hat wahrscheinlich schon mal ein Video von irgendwelchen Durchgeknallten gesehen, die beweisen wollen, dass die Impfung Teil irgendeines perfiden Plans der Regierung oder eines Weltunternehmens sei, die die Menschheit wahlweise unterjochen, ersetzen oder ausrotten will. Da werden sich Metallgegenstände an die Einstichstelle von Impfungen gehalten, um zu zeigen, dass die Stichstelle magnetisch sei. Weil: Alle Gedanken werden jetzt via 5G und injizierten Mikrochips an Bill Gates' Superrechner geschickt. Alles ein riesiger Laborversuch an der Menschheit mit Tötungsabsicht. Prominente Verrückte wie Schlagersänger Michael Wendler oder Vegankoch Attila "Avocadolf" Hildmann werden seit Monaten jeden Tag paranoider und verzweifelter über ihre fantasierte Einsicht in den geplanten "Massenmord" der "Impfdiktatur". Keine Extremvokabel ist ihnen in ihren Chatgruppen zu viel. Gäbe es irgendetwas Finaleres als den Tod – es würde aus ihrer Sicht durch die Impfung und die Coronapolitik verursacht werden.
Nicht nur rechts implodieren Gehirnzellen
Jetzt neu, aber eigentlich alt: In den "Nürnberger Prozessen 2.0" sollen sich "die da oben" für ihre Verbrechen an der Menschheit verantworten. Impfen gehört selbstverständlich dazu. Ganz vorne mit dabei: Verschwörungsanwalt Reiner Fuellmich aus der Querdenken-Gang um Michael Ballweg. Dass sie sich immer wieder über die fiese "Nazi-Keule" gegen sich beschweren, ist mittlerweile zu einem Dauerwitz mutiert. Unter Rechtsextremen ist "Nürnberg 2.0" seit Jahren ein beliebtes Fantasieszenario, in dem PolitikerInnen unter anderem wegen ihrer Verantwortung für die vermeintliche Islamisierung Deutschlands der Prozess gemacht werden soll – nach dem Vorbild der NS-Kriegsverbrecherprozesse. Am besten akzeptiert man, dass sich die Expansion der menschlichen Dummheit relational zum Grad gesellschaftlicher Ausnahmesituationen verhält. Sonst kann man sich eigentlich sofort selbst einweisen.
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DW
am 27.05.2021