KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Überschwemmungen in Stuttgart

Die Mär vom verstopften Gully

Überschwemmungen in Stuttgart: Die Mär vom verstopften Gully
|

Datum:

Nach einem Gewitter stand die Schillerstraße beim Hauptbahnhof unter Wasser – ein Szenario, das S-21-Kritiker kommen sahen. Das durch die Bauarbeiten veränderte Kanalsystem scheiterte offenbar an der ersten Bewährungsprobe. Dabei kennt die Stadtgeschichte noch weitaus heftigere Regenfälle.

Lag es an "verstopften Gullys", als die Schillerstraße unweit des Stuttgarter Hauptbahnhofs am 5. Juni 30 Zentimeter hoch unter Wasser stand? So hat die Polizei begründet, warum eine Spur zeitweise gesperrt werden musste. Oder lag es an der Abwasserleitung Nesenbachdüker, wie der Ingenieur Hans Heydemann behauptet? Der neue Düker, der das Wasser aus dem "Hauptsammler Nesenbach", also das Regenwasser aus einem Großteil des Talkessels in 22 Meter Tiefe unter dem Trog des Untergrundbahnhofs Stuttgart 21 hindurch leitet, ist im vergangenen Oktober in Betrieb gegangen.

Verstopfte Gullys führen in die Irre. Eine Straße steht unter Wasser, wenn das Regenwasser aus den Gullys herauskommt oder durch die Gullys nicht schnell genug abfließen kann. Wenn Letzteres vorkommt, liegt das aber nicht daran, dass der Gully selbst das Wasser nicht mehr durch ließe.

Denn die Konstruktion, schwäbisch Dole genannt, ist eine simple Angelegenheit, die sich seit weit über 100 Jahren überall auf der Welt bewährt. Ein gusseiserner Deckel mit breiten Schlitzen – so breit, dass diese unter normalen Umständen nicht verstopfen – liegt auf einem Ablauf. Darunter hängt ein Eimer, ebenfalls mit Schlitzen, der Schlamm, Kieselsteine und andere feste Bestandteile auffangen soll, damit sie sich nicht in der Kanalisation ablagern. Wenn dieser Eimer einmal verstopft sein sollte, tritt das Wasser über den Rand und gelangt trotzdem problemlos in die Abwasserkanäle.

Wenn sich das Wasser auf den Straßen staut, liegt das also in aller Regel nicht an Gullys, die Niederschläge nicht mehr durchlassen (und erst recht nicht an mehreren gleichzeitig verstopften Gullys), sondern an einem überlasteten Abflusssystem. Der Kanal ist in diesem Fall der Hauptsammler Nesenbach, der genau an dieser Stelle bei der Schillerstraße durch das Düker-Oberhaupt nach unten in den Nesenbachdüker gelenkt wird. Wenn sich also Wasser zurückstaut und zu Überschwemmungen führt, kann das nur bedeuten, dass der Düker die Wassermassen nicht schnell genug wegschafft. Dass dieser Fall eintreten könnte, hatten Heydemann und der Physiker Christoph Engelhardt bereits vor drei Jahren in einer Studie zu den "Überflutungsrisiken durch Stuttgart 21" vorausgesagt (Kontext berichtete).

Stuttgart kennt noch viel stärkere Regenfälle

Dabei war es am 5. Juni zwar ein "heftiges Regenereignis", wie die Pressestelle der Stadt Stuttgart auf Anfrage mitteilt – aber noch nicht das, was gemeinhin als Starkregen oder Jahrhundertereignis bezeichnet wird. Die Regenmenge betrug innerhalb einer Stunde etwa 10 Liter pro Quadratmeter. Von den drei Starkregen-Stufen, die der Deutsche Wetterdienst unterscheidet, liegt die unterste bei 15 bis 25 Liter pro Quadratmeter, die höchste bei mehr als 40 Liter. Bei einem der heftigsten Starkregenereignisse des vergangenen Jahrhunderts, als sich am 15. August 1972 die neu gebaute Unterfahrung am Stuttgarter Charlottenplatz mit Wasser füllte und sechs Menschen ums Leben kamen, fielen 50 Liter.

Dies mag als Jahrhundertereignis gelten, ist aber kein Einzelfall. Heydemann und Engelhardt haben für Stuttgart über 50 Fälle seit dem 13. Jahrhundert zusammengetragen. Der normalerweise kümmerliche Nesenbach kann bei Starkregen plötzlich stark anschwellen, weil der lehmige Boden der Stuttgarter Talhänge das Wasser nicht versickern lässt und alles zu Tal fließt. 1272 brachte eine Flutwelle die Schlossmauern zum Einsturz. Am 31. Juli 1508 stand der Marktplatz mannshoch unter Wasser. Ein Stück Mauer und ein Turm der Leonhardsvorstadt stürzten ein. Es gab 17 Tote.

Nun sind in früheren Jahrhunderten nicht die Niederschlagsmengen gemessen worden. Insofern lässt sich nicht sicher sagen, ob die Starkregenereignisse seit 1508 zugenommen haben. Im zuletzt 2008 erschienenen Klimaatlas, der aktuellen Planungsgrundlage für Stadt und Region, heißt es allerdings, dass sowohl die Jahressummen der Niederschläge insgesamt als auch die Anzahl der Starkregentage zunehmen.

Talkessel mit Tücken

Heydemann und Engelhardt führen in ihrer Untersuchung vierzehn Starkregenereignisse seit der Jahrtausendwende auf – doch das sind noch nicht alle. Nach Auskunft der Stadt wurden am 3. Juli 2009, als zwei Menschen bei einem Unwetter in Zuffenhausen ums Leben kamen, 52 Millimeter gemessen. Fast genau ein Jahr später, am 4. Juli 2010, waren es 46 Millimeter in Stammheim, wobei das Ereignis in der Studie gar nicht erwähnt ist.

Nun gibt es für den Großraum ein neues Forschungsprojekt der Universität Stuttgart mit dem sperrigen Namen Integrale Stadtregionale Anpassungsstrategien in einer Polyzentrischen Wachstumsregion (ISAP). In zwei Reallaboren in Olfen im Münsterland und in Schwäbisch Gmünd, wo es am 29. Mai 2016 ein massives Starkregenereignis mit zwei Todesfällen und schweren Schäden gegeben hat, soll untersucht werden, was die Stadtplanung tun kann, um Schäden vorzubeugen. Resilienz heißt das Zauberwort. Gemeint ist, die Stadt so zu planen, dass die Gefahr möglichst gering bleibt. Etwa mit Ausgleichsflächen für Hochwasser.

In Stuttgart dürfte dies allerdings ziemlich schwer fallen. Die abgeholzten Hänge wieder zu bewalden ist ebensowenig möglich wie im Talkessel größere Ausgleichsflächen zu schaffen, wenn der Nesenbach über die Ufer tritt. Oder besser gesagt: wenn das Wasser aus dem Kanal nach oben drückt, wie am 5. Juni geschehen. Dazu kommt: Ausgerechnet an der engsten Stelle des Talkessels, direkt am unteren Rand der City, schiebt sich der neue Tiefbahnhof quer durchs Tal wie ein Damm. Um den kommen die Wassermassen nicht herum, wie schon Architekt Frei Otto bemerkt hatte.

Bei Regenfällen kann das Wasser also nur durch den Nesenbachdüker und vier weitere Düker unter dem Bahnhofstrog hindurch in Richtung Neckar geleitet werden. Nun sagt die Stadt Stuttgart zwar mit Recht: "Keine öffentliche Kanalisation wird für Starkregenereignisse ausgelegt, die als Naturkatastrophen (Großschadenereignisse) gelten." Es passiert nicht nur in Stuttgart immer wieder, dass Straßen unter Wasser stehen oder Keller volllaufen. Die Stadtentwässerung Stuttgart rät Hausbesitzern deshalb, eine Rückstausicherung einzubauen.

Wasser fließt nach unten

Aber was passiert nun, wenn die Düker die Wassermassen eines Starkregens nicht schnell genug ableiten können? Das Wasser folgt dem Weg des geringsten Widerstands, also der Topographie des Geländes. Im Normalfall – und in anderen Städten – tritt es dann aus Bächen, Flüssen oder aus der Kanalisation hervor und breitet sich an der Oberfläche aus, bis es einen Abfluss findet. Den gibt es in Stuttgart aber nicht. Der Bahnhofstrog ist im Weg. Das heißt, solange mehr Regen fällt, als die Düker abtransportieren können, steigt der Wasserstand: zunächst an der Schillerstraße (wie am 5. Juni), dann bildet sich ein See, in den Schlossgarten hinein, zur Königstraße – je nachdem, wie stark es regnet.

Der Nesenbachdüker besteht aus drei Rohren. Das dünnste hat einen Durchmesser von einem Meter und reicht an den meisten Tagen aus. Es darf nicht zu groß sein, damit das Wassermit einer gewissen Geschwindigkeit fließt und sich kein Schlamm absetzt. Bei Regen tritt das Wasser über eine Schwelle und spült in das nächstgrößere Rohr, das einen Durchmesser von 2,40 Meter hat. Und wenn das nicht ausreicht, übersteigt es eine weitere Schwelle und fließt in den größten Kanal, wie jetzt am 4. und 5. Juni zum ersten Mal seit Inbetriebnahme geschehen. Dieser ist nun nicht rund, sondern 7 Meter breit und 3,50 Meter hoch. Das ergibt einen Querschnitt von 24,5 Quadratmeter gegenüber bisher 20.

Sollte das nicht ausreichen, große Wassermengen abzuführen? "In der Schillerstraße ist der Düker Hauptsammler Nesenbach für 100 m³/s ausgelegt", sagt die Stadt auf Anfrage, in Übereinstimmung mit den Angaben der Projektgesellschaft. Heydemann bezweifelt das. Er hat ausgerechnet, dass sich die Leistung des Dükers schon beim Bau der Stadtbahn in den 1970er-Jahren durch die waagrechte Verschwenkung auf 93 Kubikmeter pro Sekunde reduziert habe und nun auf 76,8 Kubikmeter pro Sekunde weiter verringert sei.

Auf den ersten Blick erscheint das widersinnig: Warum sollte der Düker weniger Wasser abführen, wenn der Querschnitt doch größer ist? Es kommt aber, so Heydemann, nicht allein auf die Größe des Querschnitt an, sondern ebenso sehr auf die Fließgeschwindigkeit. Die verringert sich aber mit jeder Umlenkung, jeder Querschnittsänderung und mit jedem Höhenunterschied, der überwunden werden muss. Wenn Heydemanns Rechnung stimmt, ist die Fließgeschwindigkeit im größten Kanal des Nesenbachdükers gegenüber einem geraden Rohr vom selben Querschnitt um 23 Prozent herabgesetzt.

Ein temporärer Badesee droht

Starkregenereignisse sind Extremfälle, die nicht immer gleich ablaufen. Es kann kurze Zeit sehr heftig regnen, auch verbunden mit Hagelschauern, oder längere Zeit sehr stark. Als Starkregen bezeichnet der Deutsche Wetterdienst auch, wenn es innerhalb von sechs Stunden mehr als 60 Liter pro Quadratmeter sind. Beides kann die Kanalisation überlasten. Der zweite Fall wäre hier sogar der gefährlichere, denn wenn auch nur wenig mehr Regen fällt, als der Düker abtransportieren kann, steigt der Pegel über Stunden hinweg immer mehr an.

Heydemann prognostiziert, dass sich ein bis zu zwei Meter tiefer See bilden könne, der sich dann bei weiterem Ansteigen des Wasserspiegels entweder über den tiefsten Punkt des Tiefbahnhofsdachs in der Nähe der Stadtbahnhaltestelle Staatsgalerie dorthin oder in den Bahnhofstrog entleert oder aber von der Königstraße aus in die Klettpassage und weiter in die S-Bahn-Haltestelle, wie am 5. Juni 2000 schon einmal geschehen.

Der Bahnhofstrog könnte sogar gezielt geflutet werden müssen. Bereits Architekt Otto hatte kritisiert, dass der Auftrieb das Bauwerk in die Höhe drücken könnte, da der Untergrund weich und porös ist. Also wurde die modernste Gründungstechnik mit besonders vielen Pfählen eingesetzt, die sowohl die Last nach unten abfangen als auch das Aufsteigen verhindern sollen. Aber für den Fall, dass der Grundwasserspiegel infolge lang anhaltender starker Regenfälle immer weiter steigt, haben die S-21-Planer Notflutöffnungen vorgesehen. Die Gefahr ist ihnen also bewusst. Wenn der Fall eintreten sollte, würde der Hauptbahnhof buchstäblich volllaufen – und per Zug wäre Stuttgart dann wochenlang allenfalls noch über die Vororte erreichbar.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


22 Kommentare verfügbar

  • Oliver H.
    am 26.11.2021
    Antworten
    Zitat: "Denn die Konstruktion, schwäbisch Dole genannt, ist eine simple Angelegenheit, [...] Darunter hängt ein Eimer, ebenfalls mit Schlitzen, der Schlamm, Kieselsteine und andere feste Bestandteile auffangen soll [...]. Wenn dieser Eimer einmal verstopft sein sollte, tritt das Wasser über den Rand…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!