Lag es an "verstopften Gullys", als die Schillerstraße unweit des Stuttgarter Hauptbahnhofs am 5. Juni 30 Zentimeter hoch unter Wasser stand? So hat die Polizei begründet, warum eine Spur zeitweise gesperrt werden musste. Oder lag es an der Abwasserleitung Nesenbachdüker, wie der Ingenieur Hans Heydemann behauptet? Der neue Düker, der das Wasser aus dem "Hauptsammler Nesenbach", also das Regenwasser aus einem Großteil des Talkessels in 22 Meter Tiefe unter dem Trog des Untergrundbahnhofs Stuttgart 21 hindurch leitet, ist im vergangenen Oktober in Betrieb gegangen.
Verstopfte Gullys führen in die Irre. Eine Straße steht unter Wasser, wenn das Regenwasser aus den Gullys herauskommt oder durch die Gullys nicht schnell genug abfließen kann. Wenn Letzteres vorkommt, liegt das aber nicht daran, dass der Gully selbst das Wasser nicht mehr durch ließe.
Denn die Konstruktion, schwäbisch Dole genannt, ist eine simple Angelegenheit, die sich seit weit über 100 Jahren überall auf der Welt bewährt. Ein gusseiserner Deckel mit breiten Schlitzen – so breit, dass diese unter normalen Umständen nicht verstopfen – liegt auf einem Ablauf. Darunter hängt ein Eimer, ebenfalls mit Schlitzen, der Schlamm, Kieselsteine und andere feste Bestandteile auffangen soll, damit sie sich nicht in der Kanalisation ablagern. Wenn dieser Eimer einmal verstopft sein sollte, tritt das Wasser über den Rand und gelangt trotzdem problemlos in die Abwasserkanäle.
Wenn sich das Wasser auf den Straßen staut, liegt das also in aller Regel nicht an Gullys, die Niederschläge nicht mehr durchlassen (und erst recht nicht an mehreren gleichzeitig verstopften Gullys), sondern an einem überlasteten Abflusssystem. Der Kanal ist in diesem Fall der Hauptsammler Nesenbach, der genau an dieser Stelle bei der Schillerstraße durch das Düker-Oberhaupt nach unten in den Nesenbachdüker gelenkt wird. Wenn sich also Wasser zurückstaut und zu Überschwemmungen führt, kann das nur bedeuten, dass der Düker die Wassermassen nicht schnell genug wegschafft. Dass dieser Fall eintreten könnte, hatten Heydemann und der Physiker Christoph Engelhardt bereits vor drei Jahren in einer Studie zu den "Überflutungsrisiken durch Stuttgart 21" vorausgesagt (Kontext berichtete).
Stuttgart kennt noch viel stärkere Regenfälle
Dabei war es am 5. Juni zwar ein "heftiges Regenereignis", wie die Pressestelle der Stadt Stuttgart auf Anfrage mitteilt – aber noch nicht das, was gemeinhin als Starkregen oder Jahrhundertereignis bezeichnet wird. Die Regenmenge betrug innerhalb einer Stunde etwa 10 Liter pro Quadratmeter. Von den drei Starkregen-Stufen, die der Deutsche Wetterdienst unterscheidet, liegt die unterste bei 15 bis 25 Liter pro Quadratmeter, die höchste bei mehr als 40 Liter. Bei einem der heftigsten Starkregenereignisse des vergangenen Jahrhunderts, als sich am 15. August 1972 die neu gebaute Unterfahrung am Stuttgarter Charlottenplatz mit Wasser füllte und sechs Menschen ums Leben kamen, fielen 50 Liter.
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Oliver H.
am 26.11.2021