Parkschützer-Sprecher Matthias von Herrmann verfasst vor Ort eine Pressemitteilung, schreibt von "gelöster Feierabendstimmung". Zwar gibt es schon vor Ort Diskussionen, unter S-21-GegnerInnen und zwischen ihnen und ProjektbefürworterInnen (auch sie sind auf dem Baustellengelände), ob Aktionen zu rechtfertigen sind wie das unrechtmäßige Betreten einer Baustelle, Luft aus Reifen zu lassen, Bauteile über den Zaun in den Park zu schmeißen oder, was auch passierte, die herumliegenden blauen Rohre mit Bauschaum vollzusprühen, um sie untauglich zu machen. Für aggressive Stimmung allerdings gibt es keine Anzeichen. Und auch die vielen Polizisten am Rande wirken nicht allzu angespannt. Keiner von ihnen greift ein, versucht, die Besetzer an irgendeiner Aktion zu hindern, auch kommt nie eine Aufforderung, das Gelände zu verlassen. Das geschieht nach und nach von alleine, gegen 24 Uhr ist die GWM-Fläche wieder leer.
Umso verblüffender im Anschluss der Blick in die ersten Presseberichte: Da ist, den Polizeibericht zitierend, von "einer aggressiven bis feindseligen Grundstimmung gegenüber den Polizeieinsatzkräften" die Rede, einem Sachschaden von 1,5 Millionen Euro, von dem die Bahn spricht, von zerstochenen Reifen und Sand in Tanks von Baufahrzeugen sowie von neun verletzten Polizisten: Acht sollen wegen des Böllers ein Knalltrauma erlitten haben und fortan dienstunfähig gewesen sein, ein Zivilpolizist soll von Stuttgart-21-Gegnern krankenhausreif geschlagen worden sein.
War ich auf einer anderen Demo?, fragen sich damals viele. Sowohl der Schriftsteller Heinrich Steinfest als auch der Journalist Joe Bauer, der auf der Montagsdemo davor eine Rede gehalten hatte, waren auf dem GWM-Gelände, beide reflektieren kurz darauf in Kontext und den "Stuttgarter Nachrichten" die Grenzen des objektiven Eindrucks.
Noch in der Nacht des 20. Juni beginnt innerhalb der Protestbewegung die Diskussion über die Ereignisse. Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 distanziert sich von Sachbeschädigungen, dem Umwerfen des Bauzauns und dem Zünden von Feuerwerkskörpern, denn: "Wir haben Gewalt immer abgelehnt, noch nie zu Gewalt aufgerufen und werden es auch in Zukunft nicht tun." Etwas später distanziert sich auch die Gruppe der Aktiven Parkschützer von den Ereignissen.
Zugleich werden unmittelbar nach den Ereignissen eine Reihe von Ungereimtheiten diskutiert, die die Rolle der Polizei betreffen: Wieso schritt sie, mit mehreren Hundertschaften in voller Einsatzmontur vor Ort nicht ein? Wie konnte es sein, dass acht Polizisten ein Knalltrauma erlitten und nach Polizeiangaben "dienstunfähig" waren, aber Dutzenden näher am Böller stehenden Demonstranten nichts passierte? Warum hielt sich ein Polizist schon vor dem Knall die Ohren zu? Ein Video zeigt die Szene und die allenfalls kurz erstaunte Reaktion der ansonsten ungerührten, durchweg behelmten Polizeitruppe. Und was hatte es mit dem verprügelten Zivilpolizisten auf sich? Hatte er sich, immerhin erkennbar mit einer Pistole bewaffnet, als Beamter zu erkennen gegeben? Wenn nicht, musste die Tatsache, dass Demonstranten ihn zu entwaffnen versuchten, nicht ganz anders gewertet werden? Waren unter Umständen "Agents provocateurs" der Polizei vor Ort, zumal mehrere Hundert Demonstrationen gegen S 21 zuvor alle friedlich geblieben waren? Reichlich ungeklärte Fragen, die auch in Kontext-Artikeln immer wieder thematisiert wurden (u.a. hier).
Vier Tage nach der Besetzung versuchen die Parkschützer mit einer Pressekonferenz bei der Aufarbeitung der Ereignisse in die Offensive zu gehen. Mit Hilfe von Videoaufnahmen stellen sie etwa die Fragen, wie plausibel Knalltraumata bei acht Beamten oder wie schwer die Verletzungen des Zivilbeamten tatsächlich sind. Die Deutungshoheit über die Ereignisse erlangen sie damit nicht wieder. Denn "insgesamt kann sich die Konfliktlesart der gewalttätigen Demonstranten auch in den Medien durchsetzen", schreibt die Soziologin Julia von Staden in ihrem Buch "Stuttgart 21 – eine Rekonstruktion der Proteste."
Neues Bild in den Medien: Der aggressive Protest
Und tatsächlich: Ein Großteil der berichtenden Medien scheint allein dem Polizeibericht zu folgen. Die Körperverletzungen und Sachbeschädigungen werden kollektiviert, "der Protest gegen Stuttgart 21" habe, so etwa "Spiegel online", bei den "Krawallen am Bauzaun … seine Unschuld verloren". In den "Stuttgarter Nachrichten" wiederum kommentiert der stellvertretende Chefredakteur Wolfgang Molitor, "der Protest läuft aus dem Ruder". Ein Teil der S-21-Gegner habe "Wind gesät und Sturm geerntet … Die Gewalt zieht es zum Bahnhof. Auch wenn die Mehrheit der Demonstranten friedlich ist und bleibt – in ihrem Umfeld laufen immer mehr Chaoten mit, die nur ein Ziel haben: zuzuschlagen und zu zerstören." Und diese Chaoten scheinen nun, legt Molitors Kommentar nahe, den moralischen Rückstand der Polizei nach dem 30. September 2010 wieder egalisiert zu haben: "Ein schwarzer Montag nach einem schwarzen Donnerstag." Bei letzterem wurden, nur am Rande, nach Polizeiangaben rund hundert und nach Angaben der Demo-Sanitäter zusätzlich rund vierhundert weitere Menschen verletzt – mindestens.
Wie sich dann Bilder verselbständigen können, zeigt ein Artikel von "Spiegel"-Autor Dirk Kurbjuweit. Aus der Polizei-Formulierung von Ermittlungen wegen des Verdachts auf "versuchten Totschlag" macht er in einem Artikel über den ehemaligen S-21-Bauleiter Hany Azer: "Er fühlte sich bedroht von der Wut der Gegner des Projekts … Am vergangenen Montag … haben einige von ihnen einen Polizisten halb totgeprügelt."
Dem Stuttgarter Zivilbeamten ergeht es glücklicherweise nicht ganz so schlecht, am Tag nach der Besetzung wird er aus dem Krankenhaus entlassen. Er habe eine Kehlkopfprellung erlitten, aber Lebensgefahr habe nicht bestanden. Der Verdacht auf versuchten Totschlag wird nach wenigen Tagen fallen gelassen und fortan nurmehr wegen des Verdachts der schweren Körperverletzung ermittelt. Dass sein Verhalten auf dem Gelände durchaus dubios erscheinen konnte, scheint trotzdem eher wenig zu interessieren (Kontext berichtete).
Große juristische Keule
Ganz große Geschütze fährt nun die Stuttgarter Staatsanwaltschaft auf: Die politische Abteilung unter Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler führt die Ermittlungen. Auf seine Weisung bildet sich bei der Stuttgarter Polizei die "Ermittlungsgruppe Grundwasser". Die hat nach kurzer Zeit mehrere hundert Personen identifiziert, die das GWM-Gelände unbefugt betreten haben sollen, gegen 168 beantragt die Staatsanwaltschaft Strafbefehle – wegen Landfriedensbruchs und schweren Hausfriedensbruchs. Die Beweismittel umfassen 7889 Fotos, 251 Videos und 137 Youtube-Filme.
Um diese Dokumente, die teils schon lange im Internet kursieren, im Original zu bekommen, geht die Polizei nicht zimperlich vor, mehrere Wohnungen werden durchsucht. Es beginnt Anfang Juli, als die Polizei das Parkschützer-Büro durchsuchen will, deren Sprecher Matthias von Herrmann der Polizei das geforderte Datenmaterial aber auch ohne Durchsuchung aushändigt (manche Medien phantasierten dennoch von einer "Razzia"). Später folgen Hausdurchsuchungen bei den freien Journalisten der Livestream-Plattform Cams 21. Auch gegen sie wird ermittelt, teils werden die Anklagen fallen gelassen, teils müssen sie hohe Geldstrafen zahlen (über die Ermittlungen berichtete Kontext ausführlich hier und hier).
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Andreas Spreer
am 21.06.2021