Bemerkenswert ist dabei zweierlei: Zum ersten der Umstand, dass die Polizei, die an jenem Abend angeblich nicht genug Personal hatte, um den GWM-Zaun – wie bei jeder anderen Demo zuvor – von innen zu schützen, doch so viel "Dokumentations- und Beweissicherungskräfte" und noch mindestens <link http: www.kontextwochenzeitung.de politik kurz-vorm-schusswaffengebrauch-1274.html external-link-new-window>ein Dutzend zivile Ermittler vor Ort hatte, dass die Staatsanwaltschaft hernach aus Beweismitteln schöpfen konnte, die sage und schreibe 7889 Fotos, 251 Videos und 137 Youtube-Filme umfassten. (Um letztere im Original zu kriegen, wurden mehrere Wohnungen durchsucht. Auch von Menschen mit Presseausweisen).
Kein Promi-Demonstrant wurde je behelligt
Zum zweiten der Umstand, wen die Polizei und die ihr vorgesetzten Staatsanwälte auf diesen Fotos erkannten – und vor allem wen nicht. Reichlich Demo-Prominenz war nämlich unbefugt mitmarschiert aufs GWM-Gelände an jenem Abend, darunter Abgeordnete von Stadt-, Land- und Bundestag sowie reichlich Leute, deren Konterfei regelmäßig in den Medien aufscheint. Kein Promi wurde von der Staatsanwaltschaft deshalb je behelligt. In diesem Licht sei <link http: www.kontextwochenzeitung.de debatte steinfest-denkt-1379.html external-link-new-window>der Text von Heinrich Steinfest empfohlen, der sofort nach seiner Begehung zur Feder griff.
Für viele der Beschuldigten war es der erste Kontakt mit der Justiz im ganzen Leben. Einige reagierten panisch und wollten die Sache so schnell wie möglich vom Tisch haben. Von fünfstelligen Beträge, erzählen Anwälte, die bezahlt worden seien, obwohl man dringend davon abgeraten hatte. Denn schnell wurde auch klar: Nicht alle Amtsrichter Stuttgarts folgten der Sichtweise des Oberstaatsanwalts Häußler, keiner konnte den angeklagten Landfriedensbruch erkennen, mitunter nicht mal Hausfriedensbruch, wenn tatsächlich nichts anderes vorlag, als dass jemand das Gelände betreten hatte.
Dann blamierte sich auch noch gnadenlos das Amtsgericht Stuttgart, das <link http: www.kontextwochenzeitung.de politik voellig-unbefangen-233.html external-link-new-window>eine Richterin für befangen erklären musste, auf deren Schreibtisch allein 48 solche Verfahren lagen. Und dann ging Häußler vorzeitig in Rente und dem ein oder anderen bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart ging langsam ein Lichtlein auf: Ob es denn wirklich gescheit gewesen war, diesen besessenen Strafverfolger so fuhrwerken zu lassen?
Mit Häußlers Nachfolgerin jedenfalls haben Anwälte in 2014 und 2015 viele dieser Verfahren vom Tisch gekriegt. Wegen geringer Schuld und gegen geringfügige Bußen wurden 78 Verfahren eingestellt, darunter nicht wenige, bei denen anfangs Geldstrafen bis zu 8000 Euro gefordert waren. Es sah so aus, als nehme die Sache am Ende dann doch noch einen vernünftigen Ausgang.
Und plötzlich wird wieder abgestraft – wegen der Staatsanwaltschaft
Doch es waren nicht alle Verfahren erledigt.
Und so finden seit einigen Wochen vorm Stuttgarter Amtsgericht wieder Verhandlungen statt in Sachen "Sturm aufs Grundwassermanagement". Fünfeinhalb Jahre danach werfen Mitglieder der politischen Abteilung 1 der Staatsanwaltschaft Stuttgart Beschuldigten wieder Landfriedensbruch vor, weisen Amtsrichter diesen Vorwurf wieder zurück und verknacken trotzdem zu schmerzhaften Geldstrafen, begleitet vom hilflosen Hinweis, die Staatsanwaltschaft werde sich so und so nicht auf eine Einstellung einlassen. Das habe die Staatsanwaltschaft signalisiert.
Was ist da passiert?
Erstmal nichts oder zu wenig. "Die Masse der Beschuldigten und die Masse der Beweismittel", sagt eine Amtsrichterin in einer Urteilsbegründung, habe eben dazu geführt, dass es so lang gedauert hat, bis endlich verhandelt werden konnte. Fünfeinhalb Jahre leben müssen mit der Bedrohung, in den Knast zu kommen, wenn's dumm läuft, während andere fürs gleiche Vergehen ohne alle Auflagen davongekommen sind?
Stefan S., 39 Jahre alt mittlerweile, Speditionskaufmann von Beruf, verheiratet, derzeit Vater werdend, unbescholten und nicht vorbestraft, hat genau das durchgemacht. Zu 25 Tagessätzen à 50 Euro hat ihn das Amtsgericht dieser Tage schließlich verurteilt, zudem hat er die Kosten des Verfahrens zu tragen. "Man darf einfach nicht auf fremde Dächer klettern!", hat ihm die Richterin ins Stammbuch geschrieben.
Was hat sich Stefan S. zu Schulden kommen lassen? Er hat das GWM-Gelände betreten, so wie gut 1500 andere auch. Er hat nichts kaputt gemacht, niemanden bedroht oder belästigt und das Gelände freiwillig wieder verlassen. Aber: Er ist aufs Dach des GWM geklettert. Um zu filmen. Besser gesagt: um überhaupt Empfang zu haben oder zu kriegen und live ins Internet streamen zu können, was da grad passiert in Stuttgart. Denn auch das ist eine der Merkwürdigkeiten des 20.6.2011: Nirgends in unmittelbarer Nachbarschaft des Stuttgarter Hauptbahnhofs gibt es ein Netz in dieser Nacht. Und Stefan S. ist ehrenamtlich für Cams 21 tätig, einer Plattform für Livestreams. Amateurjournalisten sind das, aber sauber aufgestellt als eingetragener Verein und mit Presseausweis in der Brieftasche. Für ihn ist Großalarm an dem Abend.
Mit der ganzen Härte wird gegen Cams 21 vorgegangen
Seine und die Arbeit seiner Kollegen ist äußerst wertvoll im Sinne der Wahrheitsfindung, aber – und vermutlich gerade deswegen – sehr unbeliebt bei der Polizei. Gegen sieben weitere Cams-21-Rechercheure, die an dem Abend auf und rund ums GWM-Gelände unterwegs sind, hat die Staatsanwaltschaft ermittelt, in fünf Fällen Wohnungsdurchsuchungen anberaumt und Fotos und Videos beschlagnahmt, die teils schon Tage lang im Internet zu besichtigen waren, andernteils rausgerückt worden wären, wenn die Ermittler auf normalem zwischenmenschlichem Wege darum gebeten hätten.
Aber nein, um Zusammenarbeit ging es den Ermittlungsbehörden da nicht, sondern um Einschüchterung. Der Verdacht jedenfalls liegt nahe, denn Kamerateams von SWR und ZDF waren zeitgleich von freundlichen Polizisten übers Gelände geführt worden, um die angeblich millionenschweren Zerstörungen zu dokumentieren. Und auch Berichterstatter und Fotografen der Stuttgarter Zeitungen hatten das Gelände betreten dürfen, ohne hinterher von Häußler belangt zu werden.
Von den acht beschuldigten Cams-21-Redakteuren wurden die Verfahren gegen vier ohne Auflagen eingestellt, drei weitere einigten sich auf die Zahlung von 150 Euro, 400 Euro sowie 30 Arbeitsstunden. Zum Teil sind die Verfahren bereits seit Jahren erledigt. Stefan S. dagegen stand erst Ende Oktober 2016 vor Gericht. Ihn kostet der (journalistische!) Spaß von damals jetzt – einschließlich Verfahrens- und Anwaltsgebühren – satte zwei Nettogehälter.
Seit Guido Wolf im Amt ist, wird wieder abgeurteilt
Warum? "Es kann doch nicht vom Zeitpunkt der Verhandlung abhängen, ob jemand verurteilt wird oder nicht", sagt der Freiburger Anwalt Frank-Ulrich Mann, der eine Vielzahl von Mandanten in gleicher Sache vertreten und die Verfahren vom Tisch gekriegt hat. Nicht so mit Stefan S., weshalb Mann noch im Gerichtssaal ankündigt, in Berufung zu gehen. Und draußen vor der Tür einen Verdacht zitiert, der halbwegs auf die Sprünge hilft: Seit dem Frühsommer hat Baden-Württemberg wieder einen Justizminister, der der CDU angehört. Guido Wolf heißt der Mann, der eigentlich Ministerpräsident werden wollte.
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powerlot
am 19.04.2017