Dieter Reicherter war seit vier Wochen Pensionär, als er auf dem Weg zu einer Verabredung den Stuttgarter Schlossgarten durchquerte – an jenem 30. September 2010, an dem der friedliche Protest gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 mit Füßen getreten, mit Knüppeln geschlagen, mit Pfefferspray besprüht und aus Wasserwerfer-Kanonen beschossen wurde. Selber abseits der zu räumenden Wege auf einer Wiese stehend, wurde Reicherter vom Wasserwerfer durchnässt und in seinem Weltbild erschüttert: Polizeigewalt über Stunden, Übergriffe vor allem auch gegen Jugendliche, Hunderte von Verletzten, aber weit und breit kein Rettungsdienst – nichts von dem, was er da mit eigenen Augen zu sehen bekam, hatte der langjährige Strafrichter und vormalige Staatsanwalt in diesem Land für möglich oder auch nur für denkbar gehalten.
Reicherter bietet sich Häußler als Zeuge an
Reicherter setzte sich an den Schreibtisch, brachte seine Erlebnisse zu Papier und schickte sie, verbunden mit dem Angebot, als Zeuge zur Verfügung zu stehen, an den zuständigen Staatsanwalt Bernhard Häußler, den damals schon umstrittenen Leiter der politischen Abteilung 1 in Deutschlands fünftgrößter Anklagebehörde. Doch Häußler, schon immer ein Rechts-Ausleger der Rechtsauslegung, hatte nur daran Interesse, den Widerstand gegen Stuttgart 21 zu kriminalisieren: In Hunderten von Verfahren gegen Demonstranten gab die Staatsanwaltschaft in den folgenden Jahren Vollgas, selbst bei teils absurd geringfügigen Tatvorwürfen, und stand zugleich auf der Bremse, wenn es um die Aufarbeitung polizeilichen Fehlverhaltens ging.
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Horst Ruch
am 04.10.2015