KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Auf der Straße

Zwei Schläge für ein Halleluja

Auf der Straße: Zwei Schläge für ein Halleluja
|

Datum:

Falls ich demnächst aufhöre, noch irgendwas zu tun, werde ich mit weichtierischer Freude in mein Notizbuch kritzeln: Die Tage kriechen dahin. Allerdings bin ich mir noch nicht sicher, was Nichtstun wirklich bedeutet. Noch weniger weiß ich, wie es sich anfühlt, wenn auch die Tage kriechen. Schleimspuren haben wir schon genug.

Noch gehe ich einigermaßen aufrecht durch die Straßen. In meinem Viertel tragen zwei Männer eine Holzkiste in ein Geschäft, sie werden lachend begrüßt. Bei näherem Hinsehen erkenne ich das auf Türkisch und Deutsch beschriftete Reklameschild eines Beerdigungsinstituts. In meinen Western werden neue Särge immer dann gezimmert, wenn ein Revolverheld in die Stadt reitet. Bei uns ist es ruhig, und unsereiner ist auch nicht mehr der Schnellste.

Mit der Herumgeherei, oft als Nichtstun verachtet, habe ich einst begonnen, um in den Nischen der Stadt Anschauungsmaterial fürs Grobe und Ganze zu sammeln. Ich dachte, auch beim Blick auf eine Modelleisenbahn könne man den Lauf der Welt erkennen und am Ende des Tunnels kein Gaslicht sehen.

Neulich kam ich am Furtbachkrankenhaus vorbei. Diese psychiatrische Klinik steht gegenüber der Marienkirche, was beweist, dass Gotteshäuser allein das Seelenheil nicht retten. In der Furtbachstraße sah ich ein Schild mit dem Konterfei eines bekannten Schildmützenträgers, daneben ein Zitat: "Die Revolutionen sind Festtage der Unterdrückten und Ausgebeuteten." Dafür, sagte ich mir, wirst du keinen Nerv mehr haben, wenn deine Tage dahinkriechen wie du selbst. Im früheren Haus Nummer 12 hat im April 1901 Wladimir Iljitsch Lenin gewohnt, als Gast des Verlegers und SPD-Reichstagsabgeordneten J. H. W. Dietz, der 1902 Lenins Schrift "Was tun?" auf Russisch veröffentlichte. Diese Frage prägt heute die Politik der SPD. Ich könnte jetzt erzählen, dass der Mann mit der Mütze Stuttgart noch einige weitere Male besucht hat. Aber russische Revolutionäre belässt man zurzeit besser im Sarg, falls einem das Nichtstun lieb ist.

Bemalte Hausfassade als einzige Herumgeher-Beute

Am Sonntagabend kam ich von einem Spaziergang zurück. Unterwegs hatte ich als einzige Herumgeher-Beute eine Hausfassade geknipst: Diese Wand, fünf Stockwerke hoch, hat man für das Urban-Arts-"Pfffestival" mit einer grauen Vase und vier hellen Rosen bemalt. Am Boden des Bildes ist ein Schwänzchen zu sehen, das von einer Ratte oder einem Pffrettchen stammen könnte. Vermutlich ein klimapolitischer Akt grüner Stadtbegrünung.

Wieder zu Hause las ich in einem Roman, dessen Sound mich an mein Sofa fesselte: "Stoner" von John Williams, einem Amerikaner, dessen Bücher vor einigen Jahren neu entdeckt und mit großem Erfolg wiederveröffentlicht wurden. Zu seinen Lebzeiten waren sie Ladenhüter.

Die Geschichte handelt von der gescheiterten Ehe und der unglücklichen Liebesaffäre eines Literaturprofessors, also von Dingen, die mich nichts angehen. Ich las und las, bis mir klar wurde: So bedrückend präzise wie John Williams hat mir noch niemand gesagt, wozu man lebt – und warum man es auch lassen kann. Wozu also, habe ich mich gefragt, gehe ich noch herum? Die Welt ist groß genug und mein Leben bequemer als in einem Sarg und jeder Ehe, wenn ich mich mit einem Roman von John Williams aufs Sofa verkrieche.

Nachdem ich mit dem Buch fertig war, sah ich am späten Abend im Fernsehen einen Dokumentarfilm über den Schauspieler Bruno Ganz. Der Regisseur Wim Wenders erzählt, wie Dennis Hopper völlig abgedreht bei den Dreharbeiten des Films "Der amerikanische Freund" aufkreuzt. Als er es auch im x-ten Versuch nicht schafft, einen Dialog aus zwei Sätzen mit Bruno Ganz zu führen, gibt ihm der Kollege eine Schelle. Weil Dennis Hopper aber ein amerikanischer Schauspieler ist und deshalb auch ein Boxer, schlägt er Ganz mit einem professionellen Hieb zu Boden. Am Morgen danach tauchen beide sturzbetrunken Arm in Arm am Set auf.

Aus dem Haus nur, um Proviant zu besorgen

Ich erzähle das, weil mir dieser Sonntag die Gewissheit gab, höchstens noch zur Besorgung von Proviant das Haus verlassen zu müssen. Es wäre in Zukunft überflüssig, ein Theater oder einen Konzertsaal, ein Kino oder ein Kabarett zu besuchen. Vielleicht mal, aus Gründen des Mitmenschseins, ein Fußballspiel, fünfte Liga. Meine Teilzeitmobilisierung versagt.

Und das Wort "Kultur" geht mir ohnehin schon seit Längerem auf den Sack. Womöglich, weil ich mich etwas zu viel damit beschäftigt habe. Ein Fall von Fehlerkultur. Ständig wird um mich herum "Kunst und Kultur" beschworen, ohne mit einer Silbe anzudeuten, was das sein soll. Picasso hat mal gesagt, wäre uns "der wahre Wert des Wortes Kultur bekannt, würden wir kein solches Getue damit" veranstalten: Dann hätten "wir genug Kultur, um ihr keine so übermäßige Bedeutung beizumessen".

Fakt ist: Nach den schlimmsten Corona-Tagen kommen die Kulturmenschen bei uns nicht mehr wie gewohnt in ihre Stammhäuser. Zu viele Veranstaltungen der Branche leiden unter Besucherschwund. Nur das Star-Geschäft des Massenbetriebs brummt noch. Ein gehöriger Teil des präpandemischen Publikums sitzt unterdessen auf dem Sofa, liest Romane und schaut zu, wie ein Mann einen Mann ohrfeigt, weil der fast so besoffen ist wie ein Trachtenjodler auf dem Stuttgarter Volksfest.

Vom Verschwinden des Publikums

Die genauen Motive für das Verschwinden des Publikums sind noch nicht erforscht. Corona, der Krieg in der Ukraine und die drohende Wirtschaftskrise mit ihren Preisexplosionen sind eine Giftmischung, die vielen die Energie und Neugier raubt. Als ich mich darüber mit dem Schriftsteller Heinrich Steinfest unterhalte, spricht er von der Rückkehr des Biedermeier. Neben aller Empörung angesichts der ökonomischen und ökologischen Existenzbedrohungen scheint sich ein verschärfter Rückzug ins Private anzubahnen. Fängt damit an, dass man nicht mehr die TV-Nachrichten, sondern lieber gleich Netflix einschaltet. Geht mir manchmal auch so.

"Ohne Kunst & Kultur wird's still", lautete drohend eine Parole in der Pandemie. Ach was. Worum es geht, sagt uns Stuttgarts oberster Lautsprecher, das Rathaus-Fass Nopper: "Mit zwei Schlägen habe ich das erste Fass angestochen. Gerade in diesen krisenhaften Zeiten brauchen wir das Volksfest. Schon in seinen frühesten Anfängen war es ein Mutmach- und Hoffnungsfest, das in Zeiten von Not und Entbehrung gegründet wurde. Auch jetzt brauchen wir Zuversicht und Lebensfreude, verbunden mit Vernunft und einem aufgeklärten Blick auf den Ernst der Lage. Nach der Eröffnung gab's an der Fruchtsäule für die ersten Festbesucher 175 Liter Freibier zum Jubiläum."

Zwei Schläge für ein Halleluja. Wer die Heldentaten eines Herrn Nopper betrachtet, wird verstehen, warum ich mir häufiger die Knockout-Kultur eines Herrn Hopper wünsche.

Die Kolumne eines Spaziergängers bietet nicht den Raum, die Gründe für den Niedergang sogenannter Kulturevents zu erörtern. Gedanken muss man sich machen, wie neue Begegnungsorte entstehen oder alte neu inszeniert werden können. Als Kultur verstehe ich eine Lebensweise, die demokratische Errungenschaften verteidigt. Dazu brauchen wir auch die Disziplinen der Kunst. Es geht mir nicht um eine "Politisierung" von Kunst, das wäre Quatsch. Vielmehr darum, sich bewusst zu werden, warum wir gerade jetzt neue Begegnungsorte mit künstlerischen Angeboten schaffen und inszenieren müssen. Orte, die weniger steril und eingefahren sind als bisherige. Räume, die bessere Voraussetzungen für Dialoge und Begegnungen bieten.

Wenn wir nichts tun, kriechen die Tage dahin. Und auf dem Sofa merken wir nicht, dass der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch, was die demokratische Kultur zerstört. Darauf ein Freibier.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


1 Kommentar verfügbar

  • Elly
    am 18.10.2022
    Antworten
    So was hab ich selten gelesen … mal was anderes … gefällt mir! Aber was meine „Rubin“ - der Hund in der Furtbachstr - damit zu tun hat … naja sie war grad da …. so scheeee, das hat mir sehr gefallen. Danke Herr Joe Bauer, dass wir uns getroffen haben …
    Gibt es auch emotionale Kultur? Ja ich glaub…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!