Ausverkauftes Haus. Und obwohl vor dem Hauptact im Hamburger Musikclub Gruenspan alle Türen nach draußen geöffnet wurden, ist die Luft zum Schneiden. Ganz vorne drängeln sich die Gäste um die besten Plätze. Das einst alltägliche Konzerterlebnis ist heute, nach über zwei Jahren Pandemie, noch immer etwas fremd. Als die Sängerin der US-amerikanischen Band Bikini Kill die Bühne betritt, steigert sich das Gefühl der Beklommenheit. Sie reagiert geschockt, als sie sieht, dass kaum jemand im Publikum eine Maske trägt. "Die Pandemie ist nicht vorbei", ruft sie in die Halle. Zögerlich greift ein Teil des Publikums nach der Maske in der Tasche. Seit Frühjahr sind die Corona-Maßnahmen auch in der Kultur gefallen. Viele Kulturschaffende waren erleichtert, dass der Betrieb wieder in Präsenz stattfinden kann. Doch nach einem halben Jahr spüren viele ein böses Erwachen.
"Wir beobachten in großen Teilen der Branche eine gewisse Orientierungslosigkeit und die Suche nach Lösungen für die Zukunft", sagt Henning Reinholz vom Ulmer soziokulturellen Zentrum Roxy. Der Glaube, dass nach dem ersten Abflachen der Pandemie die Besucher:innen wieder "die Bude einrennen", erwies sich als falsch. "Die Besucher:innenzahlen sind bei Weitem nicht auf dem Niveau von vor der Pandemie. Wir haben einen Einbruch von 50 bis 70 Prozent zu verzeichnen", sagt Annette Loers vom Kulturzentrum Merlin in Stuttgart. In ganz Baden-Württemberg klagen Kultureinrichtungen über deutlich rückläufige Besucherzahlen.
Im Lockdown Alternativen gefunden
"Der Rückzug ins Private ist offensichtlich", sagt Rosaly Magg vom E-Werk in Freiburg. Es werde immer schwieriger, das Publikum zu erreichen. Im Karlsruher Tollhaus wird seit Monaten überlegt, woran das rückläufige Interesse liegen könnte. "Zwei Jahre kulturelle Abstinenz haben viele Menschen anders genutzt", sagt Tollhaus-Leiterin Britta Velhagen. "Kultur gehört nicht mehr automatisch zum Alltag. Viele denken, zu Hause ist es auch schön oder treffen sich lieber mit Freund:innen." Wer früher drei Veranstaltungen pro Woche besuchte, begnüge sich heute mit einem Event. "Es gibt Veranstaltungen, bei denen die Leute sagen, da muss ich jetzt hin. Bei anderen denken die sich dann, die kann ich auch mal ausfallen lassen." Die Selbstverständlichkeit sei weg, sagt Velhagen. Es gehe nicht mehr darum, welche Veranstaltung besucht werde, sondern ob am Wochenende überhaupt ein Kulturprogramm auf dem Plan steht. "Wir müssen uns langfristig Gedanken machen, was wir mit den Leuten machen, die nicht mehr zurückgekommen sind", sagt Velhagen. Dies sei auch eine gesellschaftliche Aufgabe. Denn: "Menschen, für die Kultur zum Alltag gehört, waren ohnehin schon immer eine Minderheit."
2 Kommentare verfügbar
Markus Hitter
am 06.10.2022Ein gut Teil der Besucher bleibt also nicht _trotz_ der aufgehobenen Massnahmen, sondern gerade deswegen zu Hause. Macht ja keinen Sinn,…