Häuser, die Mozarts Figaro im Repertoire haben, sind schon mal auf der ganz sicheren Seite. Denn der zum Kammerdiener aufgestiegene Barbier misst gern und ganz genau, weil er wissen will, ob das neue Bett überhaupt passt ins zugewiesene Zimmer: "Fünfe, zehne, zwanzig, dreißig, sechsunddreißig", zählt er.
Auch Masken sind alles andere als fremd auf den die Welt bedeutenden Brettern, vom antiken Theater bis zur Commedia dell'Arte. Unvergessen Niels-Peter Rudolphs Inszenierung in Stuttgart Ende der Siebzigerjahre mit ihrer Besetzung direkt aus dem Who-is-Who deutschsprachiger Stars von Peter Sattmann, Martin Schwab und Branko Samarovski bis Kirsten Dene und Gert Voss. Zu lernen war was fürs Leben: Sich Maskieren hilft nicht wirklich, du bleibst doch der arme Tropf, der du bist.
Ganz ohne Masken wird jetzt erst einmal ausprobiert, was überhaupt geht. Burkhard C. Kosminski, Intendant am Schauspiel Stuttgart, ist "zuversichtlich, dass wir Sicherheitsmaßnahmen und große Kunst miteinander verbinden werden, denn: die Kreativität des Theaters kennt keine Grenzen." Martin Kušej, der ehemalige Stuttgarter Hausregisseur, rät zum ultimativen Proben-Pragmatismus: Wie geküsst wird, behauptet er, sei hinlänglich bekannt und nicht erst einzuüben.
Anproben gibt's jetzt mit Puppen
Anderes dagegen schon. Kunststaatssekretärin Petra Olschowski zufolge gelten die ehernen Regeln der VBG, der Verwaltungsberufsgenossenschaft, die als Unfallversicherung branchenspezifische Handlungsanleitungen herausgibt. Das klingt technokratisch, ist es auch und muss fortlaufend beobachtet werden, weil sich die Vorgaben für den Probebetrieb, für die Arbeit in den Werkstätten, für die Technik oder für Außendrehs bis ins Detail am jeweiligen wissenschaftlichen Stand orientieren. Mit Datum 7. Mai wird beispielsweise gebieterisch verlangt, "wenn es möglich ist, Anproben und Kostümfertigungen mit Hilfe von Schneiderpuppen durchzuführen".
Abstands- und Hygieneregeln stehen aber nicht nur im Zentrum technischer oder organisatorischer, sondern auch künstlerischer Überlegungen. Beim Abgang keine flüchtige Berührung, die das bald wieder anwesende Publikum als Beginn einer amourösen Beziehung erkennen würde, keine intime Nähe als Ausdruck sprießenden Liebesglücks. Stattdessen bunte Markierungen an einer Schiebetür, um zu verdeutlichen, wer wohin greifen darf. Schließlich verbreitet sich das Virus tendenziell überall. "Die Herausforderung ist, diesen neuen Gegebenheiten kreativ zu begegnen und sich davon nicht blockieren zu lassen", fasst Intendant Kosminski erste Erfahrungen zusammen.
Also markieren, messen, putzen und keinesfalls küssen. Sondern nach den geltenden Arbeitsschutzstandards nicht weniger als zwanzig Quadratmeter pro Person Grundfläche schaffen auf der Bühne. Für Unbeteiligte gilt die Hälfte, bei Schreiduellen deutlich mehr oder – was für ein Regie-Einfall! – eine Trennscheibe aus Plexiglas. Stündliche Lüftungen verstehen sich von selbst. Für MusikerInnen haben sich die Zuständigen noch mehr ausgedacht: Der Mindestabstand "beträgt nach derzeitigem Kenntnisstand mindestens zwei Meter, besser jedoch mindestens drei Meter aufgrund der unvorhersehbaren instrumentenabhängigen Aerosolbildung".
Nur die Querflöte ist eine Virenschleuder
Der Kenntnisstand könnte sich aber jederzeit ändern. Die Wiener Philharmoniker haben – mit Sonden in der Nase, unter ärztlicher Aufsicht und notariell beglaubigt – Überraschendes zutage gefördert. Zum Beispiel, dass sich die Atemluft selbst bei der Benutzung von Blasinstrumenten viel weniger verbreitet als vermutet. Und dass es bei ViolinistInnen keinen Unterschied macht, ob sie spielen oder nur stumm dasitzen. Einziger Ausreißer, schade für die Fans einschlägiger Stücke von Bach, Händel oder Donizetti, ist die Querflöte, die tatsächlich für eine erhebliche Aerosolwolke sorgt. Allen, die kein Blasinstrument spielen, also SängerInnen und DirigentInnen, empfehlen auch die Charité und die Bundeswehr-Uni in München nur noch 1,5 oder "bei Probe besser zwei Meter Abstand".
Als vorbildlich geadelt in der Szene ist schon seit Beginn des Lockdowns das Stuttgarter Theater Rampe. Geprobt wurde per Skype oder Handy-Video ohne Unterbrechung, das Programm ist gestreamt, und es gibt sogar eine Premiere mitten im Betriebsverbot. Und die ist von erschreckender Aktualität. "Das Haus der Antikörper" heißt ein zwei Jahre altes Stück, in dem ein Virus grassiert und das ausgewählt wurde, lange bevor Corona sich tatsächlich ausbreitete. "Wir waren fast schockiert ob der Parallelen", bekennt Intendantin Martina Grohmann, die umtreibt, was nicht nur Theaterleute umtreibt – wie die Gesellschaft aus den Einschränkungen zurückkommt, was Vereinzelung auslöst, wie sich kollektive Prozesse verändern.
45 Millionen Euro für die Kunst
Und natürlich die Frage vieler Fragen ohnehin und im Kunstbetrieb schon vor Corona: Auftritt von links – auch Häuser, die Fidelio im Repertoire haben, sind auf der sicheren Seite – Kerkermeister Rocco mit seinem Rat fürs Leben: "Hat man nicht auch Gold beineben, kann man nicht ganz glücklich sein." Mit ihrem "Masterplan Kultur" (45 Millionen Euro) füllt die Landesregierung immerhin zwei weitere Töpfe. 32 Millionen Euro werden an wirtschaftlich gefährdete Kunst- und Kultureinrichtungen sowie an Vereine der Breitenkultur fließen, sieben Millionen Euro ins Programm "Kunst trotz Abstand" zur Förderung kultureller Veranstaltungen. Und im Rahmen des Soforthilfeprogramms gingen bisher an mehr als 8.000 Kulturschaffende über 75 Millionen Euro. "Das wird nicht reichen", weiß auch Olschowski, "aber ein Anfang ist gemacht."
Und dem wohnt bekanntlich ein Zauber inne. Toll fühle sich an, sagt Kosminski, in den Proben "die Lebendigkeit von Theater wieder spüren zu können". Und noch toller wird sein, wenn sich dieses Gefühl im Zuschauerraum breitmacht. Wen schreckt, dass der künftig halbleer ist, der muss nur die Perspektive wechseln: Bald wird wieder gespielt, und zwar in halbvollen Häusern.
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