KONTEXT:Wochenzeitung
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Wir sagen: Danke – und bravo!

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Als kleine Hilfe für KünstlerInnen, die durch den Corona-Shutdown um ihre Existenzgrundlage gebracht wurden, war die Kontext-Reihe "Vorhang auf!" gedacht. Zum Vorschein gebracht hat sie die enorme Vielfalt, den Witz und Erfindungsreichtum der freien Kunst jenseits der großen Häuser.

Am 13. März erfuhren alle Kulturinstitutionen und Künstler, in Stuttgart und anderswo, dass der Ausstellungs- und Konzertbetrieb, die Theatervorführungen und Literaturveranstaltungen bis auf weiteres ruhen müssten. Eine Entscheidung, die aus Infektionsschutz-Gründen wegen des Coronavirus geboten sein mochte, aber sehr viele selbständige Künstlerinnen und Künstler ebenso wie viele Kulturveranstalter vor die bange Frage stellte: was nun? In der nächsten Kontext-Ausgabe, fünf Tage später, lud Joe Bauer zur Teilnahme an der Kontext-Aktion "Vorhang auf!" ein: eine virtuelle Bühne für alle, denen die reale Bühne abhanden gekommen war.

Alle 42 Folgen der Kontext-"Vorhang auf"-Aktion für Kulturschaffende ohne Bühne sind hier zu finden.

Als selbst spendenbasiertes Medium wollte Kontext sich zwar solidarisch zeigen, konnte denjenigen, die durch die Absagen in Not gerieten, aber nur einen kleinen Solidaritätsbeitrag bieten. Hier hat die Künstlersoforthilfe von Joe Bauer, Tom Adler, Goggo Gensch und Peter Jakobeit Erstaunliches geleistet und in zwei Monaten mehr als 180.000 Euro an Spenden gesammelt. Vor allem in der ersten Zeit war dies wichtig, denn es hat dann doch ein wenig gedauert, bis bei der an sich vorbildlichen Soforthilfe des Landes alle Fragen geklärt waren.

Aber etwas anderes konnte Kontext bieten, wie sich sehr schnell herausstellte: Kunst, welcher Richtung auch immer, ist nämlich gar nicht in erster Linie eine Erwerbsquelle – auch wenn KünstlerInnen, wie jeder andere auch, selbstverständlich eine ökonomische Perspektive benötigen, um tun zu können, was sie tun. Am Anfang steht jedoch die Kunst selbst, die mehr ist als eine Ware, die etwas bieten kann, was im rein ökonomisch getriebenen Leben fehlt: Reflexion, Orientierungshilfe, freies Spiel der Gedanken, Schönheit, Gemeinschaft, Humor und vielleicht noch viel mehr.

Die Kreativität zeigt sich schon darin, wie die KünstlerInnen auf die aktuelle Situation reagiert haben. Und zwar nicht nur Jörg Buchmann mit seinem Song und Animationsvideo "Corona World". Ob Theresa Szoreks Neue-Musik-Comic-Performance mit einem herzhaften Nieser beginnt oder Sylvia Winkler und Stephan Köperl aufgelesene Medikamente in chinesischer und englischer Sprache besingen; ob sich in Esther Falks und Johanna Sophia Müllers Figurentheater ein gruseliges Wesen ganz nah anschleicht oder Mireille Marteau den Doors-Song "People Are Strange" anstimmt; ob Lorenzo Petrocca dem Aufruf der MusikerInnen für Deutschland folgt, auf dem Balkon zu spielen, oder in "Beethovens Escape Room" das sonst in der Regel gespielte "Freude schöner Götterfunken" als Karaoke zum Mitsingen vorkommt: Immer lässt sich die Corona-Situation mitdenken.

Jonathan Delazers Video bringt diese Situation auf den Punkt: Der Musiker sitzt im Sessel und hat nichts zu tun. Nur der Plattenspieler dreht sich im Kreis. Im Computerspiel-Musikvideo der Vampire Cats schlagen sich zwei Frauen mit Kopftuch und Mundschutz Einkaufstaschen um die Ohren. Denn die Regale im Supermarkt waren leer geräumt, die Corona-Krise war anfangs eben auch eine Klopapier-Krise. Die Bremer Shakespeare Company jedenfalls liest ein Sonett von der so kostbar gewordenen Rolle ab.

Eigentlich war die Kontext-Aktion in erster Linie für KünstlerInnen aus Baden-Württemberg gedacht, und die Bremer Truppe, die selbst täglich ein Video ins Netz stellt, wäre an sich nicht auf Kontext angewiesen. Aber die Bezüge, vom mit dem Meterstab abgemessenen Social Distancing bis hin zur Erkenntnis, dass ein neues Kraut aus Virginia, Tabak genannt, im frühen 16. Jahrhundert nicht zuletzt deshalb rasch an Beliebtheit gewann, weil sein Rauch als Medikament gegen die Pest empfohlen wurde, waren zu lehrreich und unterhaltsam, als dass wir auf den Beitrag hätten verzichten wollen.

Ohnehin – das ist jetzt ein Gemeinplatz – kennt Kunst keine Grenzen. Aufnahmen zu "Vorhang auf!" kamen aus China, Indien, dem Iran und von einem südafrikanischen Klavierwettbewerb. Theresa Degen performt den hawaiianischen Hula-Tanz. Für Michaela Tröscher aus Titisee-Neustadt – Künstlername "The Icelandic Pianist" – ist der Bezugspunkt Island. Beteiligt waren KünstlerInnen aus Japan, Kamerun, der Ukraine und Brasilien. Aber auch das Ländle kommt nicht zu kurz: von Owingen-Taisersdorf bis zum Killertal.

Von Jazz bis Raw Punk, von sanften Liedermachern bis hin zu kratzbürstiger Neuer Musik; Theater, Figurentheater, Tanz, Performance: Die zeitbasierten Künste, wie man so sagt, finden normalerweise vor Ort, vor einem anwesenden Publikum statt, ebenso Poetry Slam und Dichterlesungen. All das lässt sich auch auf Video aufnehmen, und doch ist das Erlebnis nicht dasselbe. Es gibt aber auch die Videokunst als eigene Kunstrichtung – die Grenzen sind fließend. Mehrere Beteiligte haben zu ihrer Musik Videos neu produziert, die selbst künstlerische Qualitäten aufweisen. Und sogar Malerei, die sonst still und unbeweglich im Ausstellungsraum hängt, lässt sich, wie Kerstin Schaefer zeigt, in eine Performance mit Tonspur ganz eigener Logik verwandeln.

Wie es der Zufall will, folgt auf den Lockdown am Ende die Lockerung mit dem früheren Olympiasieger und Kontext-Vorstand Dieter Baumann, dann noch die trans-generationale Trauma-Verarbeitung und die philosophische Reflexion über die Wiederkehr des ewig Gleichen. Und zu guter Letzt, als krönender Abschluss, trotz fortbestehender Ausgangssperre in Indien ein grenzüberschreiendes musikpädagogisches Projekt, das bei allen Einschränkungen ein positives Signal sendet: Schwierigkeiten sind dazu da, überwunden zu werden.

Wir sind begeistert! Was hier in acht Wochen zusammenkam, zeigt aufs eindringlichste, wie lebendig und vielfältig die aktuelle Kunst ist – auch jenseits der großen Häuser, die den Löwenanteil der staatlichen Fördergelder einstreichen. Wie schnell KünstlerInnen auf neue, unvorhergesehene Herausforderungen zu reagieren imstande sind. Auch wenn das, was wir hier zeigen konnten, nur ein winzig kleiner Ausschnitt von all dem sein kann, was sich unter gleich welchen Umständen insgesamt in acht Wochen ereignet. Respekt und Dank an alle beteiligten KünstlerInnen: Kontext schließt mit einer tiefen Verneigung.

 

 


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1 Kommentar verfügbar

  • Joe Bauer
    am 20.05.2020
    Antworten
    Damit kein falscher Eindruck entsteht: Unsere Künstlersoforthilfe ist weiterhin aktiv - und die Not vieler Kulturschaffender nach wie vor groß. Vergessen wird allzu oft, dass viele im Kulturbereich auch ohne Krise unter prekären Bedingungen arbeiten. Unsere Initiative ist nur ein Beispiel dafür,…
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