Sie sagen, die öffentlichen Theater sollten sich nicht so "hyperüberschätzen".
Natürlich sind Theater unheimlich wichtig für unsere Gesellschaft. Ich bin ja selbst Theaterleiterin, glaube daran, dass wir ein Bindeglied fürs Soziale sind, und dass Kunst im besten Fall wirklich ein Nachdenken über unsere Welt produziert. Nur finde ich es in so einer Situation wie der jetzigen falsch zu sagen, dass das Allerwichtigste sei, dass die Theater offen seien, ohne nach rechts und links zu gucken und zu bedenken, wen die vielen aktuellen Notlagen besonders stark treffen und was in dieser weltweiten Krise gerade wirklich wichtig ist. Da fühle ich mich provoziert.
Ihr Vorschlag ist, dass sich die Theater in der jetzigen Auszeit in anderen gesellschaftlichen Bereichen sinnstiftend betätigen. Unter dem Stichwort "nützliche Kunst" könnten SchauspielerInnen etwa zum Vorlesen zu alten, vereinsamten Menschen gehen oder in Gesundheitsämtern aushelfen.
In anderen Ländern gibt es so etwas schon, etwa in Großbritannien. Da sind alle öffentlichen Unternehmen dazu verpflichtet, zu einem gewissen Grad auch in anderen Bereichen zu arbeiten. Das ist ja auch in der Kultur keine neue Idee. Das renommierte Hamburger Ensemble Resonanz zum Beispiel hat vor ein paar Jahren ein groß angelegtes Projekt mit DemenzpatientInnen gemacht. Das war für beide Seiten unglaublich bereichernd. Warum immer nur in seinem Theater sitzen und nicht mal rausgehen, um seine Kunst mit anderen gesellschaftlichen Realitäten zu konfrontieren?
Sie sagen auch, die Theater sollten sich jetzt mal Gedanken machen, wie sie aus ihrem elitären Status herauskommen, wie sie sich demokratisieren, wie sie ein diverseres Publikum aufbauen könnten. Was hat das Gros der öffentlichen Theater in den letzten Jahren denn verschlafen?
Auch wenn sich alle mittlerweile bemühen, sich zu öffnen: Die Theater sind noch immer archaische Betriebe. Sehr hierarchisch, mit sehr wenigen Frauen an der Spitze, sehr deutsch auch. Von Ausnahmen abgesehen gilt: Die Ensembles der Landes-, Stadt und Staatstheater bestehen vor allem aus weißen SchauspielerInnen, die vor einem überwiegend elitär-bürgerlichen und akademischen Publikum spielen. Die Menschen auf der Bühne repräsentieren in keiner Weise die Diversität unserer Gesellschaft. Das ist ja in Stuttgart nicht anders als hier: In Hamburg haben etwa 30 Prozent der Bevölkerung und über 40 Prozent der Schulkinder einen Einwanderungshintergrund. Aber im Publikum spiegelt sich das nicht wider. Wenn man diese Menschen ins Theater bekommen möchte, muss man sein Haus öffnen – was die Zusammensetzung der Ensembles, der Belegschaft, aber auch die Programminhalte angeht. Solche Veränderungen brauchen natürlich ihre Zeit, und die müssen schon in der Ausbildung und im Studium beginnen. Auch in den Schulen braucht es eine kontinuierliche kulturelle Bildung für alle Kinder, nicht nur für die, die von ihren Eltern ohnehin ins Theater mitgenommen werden. Aber wenn wir als Theater relevant bleiben wollen, müssen wir gesellschaftlich zukünftig weiter in die Breite wirken.
Wie ist denn auf Kampnagel die Publikumszusammensetzung?
Wie alle Theater haben auch wir natürlich ein bürgerliches Publikum. Aber so wie unser Programm von großen internationalen Tanz- und Theaterproduktionen über lokale Performances, Konzerte, Clubabende und Konferenzen inhaltlich eine große Bandbreite abbildet, spiegelt sich das auch in der Zusammensetzung des Publikums wider. Wir arbeiten mit KünstlerInnen aus migrantischen, queeren und Communities of Color zusammen, das hat unsere Publikumszusammensetzung deutlich verändert. Aber genauso wichtig ist es, die Vielfalt der Gesellschaft auch hinter der Bühne abzubilden. Wer sitzt in der Technik, der Dramaturgie, aber auch in den Verwaltungen? Nur wenn die Belegschaft die Perspektiven und Erfahrungen einer vielfältigen Gesellschaft abbildet, verändern wir in den Theatern auch nachhaltig die Publikumszusammensetzung.
Halten Sie Theater für systemrelevant?
Das ist Definitionssache. Wenn wir vom kapitalistischen System ausgehen, in dem wir leben, hören wir ja die ganze Zeit, was systemrelevant ist: Jede Art von Arbeit. Das heißt: Arbeiten dürfen die Theater, was ja auch passiert: Wir proben, planen zukünftige Projekte, bauen Bühnen auf und ab. Bloß spielen dürfen wir nicht. Man darf also arbeiten – und natürlich konsumieren. Maßnahmen wie die Schließung der Theater dienen der Einschränkung von sozialen Zusammenkünften, um das Ansteckungsrisiko zu reduzieren, aber dadurch sollen offensichtlich auch die Umsätze im Weihnachtsgeschäft nicht gefährdet werden. Aber man verkennt, dass auch die Kulturinstitutionen unter wirtschaftlichen Aspekten wichtig sind. Man müsste mal die Umsätze vergleichen: jene der Einkaufsmeilen einer Stadt mit denen des Tourismus, an dessen Umsätzen die Kultur ja maßgeblich beteiligt ist. Aber im Kapitalismus sagt man halt: Konsum, Warenströme, Finanzmärkte – das darf alles weitergehen. Aber ansonsten: Bitte zuhause bleiben. Aber das ist ein falscher Gedankengang. Nicht einmal innerhalb des kapitalistischen Systems würde man denken, Zerstreuung und Vergnügung, Kunst und Kultur seien unwichtig. Eher, dass sie der Regenerierung der Menschen dienen, damit diese dann wieder effizient arbeiten können. Immer zuhause zu sitzen, keine sozialen Kontakte zu haben, ist kontraproduktiv. Man merkt ja vielen Menschen bereits an, dass sie daran ein bisschen irre werden. Ja, natürlich sind die Theater systemrelevant!
1 Kommentar verfügbar
Christin
am 18.05.2021