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Kultur im Lockdown

Was wird am Ende übrig bleiben?

Kultur im Lockdown: Was wird am Ende übrig bleiben?
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Planung ins Ungewisse, Ausgang nicht abzusehen. Die gesamte Kulturbranche steckt derzeit in diesem Dilemma. Was blüht ihr nach den Corona-Lockdowns? Eine Spekulation mit vielen Unbekannten.

Es ist eine unglaublich öde Zeit. Die Zentren der Städte liegen abends im Dornröschenschlaf. Kinos, Theater, Konzertsäle, Restaurants, Tanzclubs zu. Selbst der neue James Bond hockt in der Warteschleife, obwohl sein Titel so geschäftig aktuell klingt: "Keine Zeit zu sterben". Agent 007 gehört zumindest nicht zu denen, die vor Langeweile sterben. Geheimagenten sind mutmaßlich systemrelevant.

Gegenüber den meisten Berufsgruppen waren und sind die staatlich verordneten Corona-Regeln relativ lax, und der Verweis aufs Homeoffice ist nur eine Empfehlung an die Arbeitgeber. Auch die Schulen wurden bis kurz vor Weihnachten offen gehalten, auch wenn sich an einigen die Infektionsfälle häuften. Es gibt unzählige Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten in den Verordnungen, die die Ausbreitung des Coronavirus eindämmen sollen. Besonders hart trifft es die Kulturbranche: Anfang November mussten Konzerthäuser, Theater, Kinos, Museen zum zweiten Mal schließen. Sie waren die Bauernopfer, um die Stadtzentren abends zu entvölkern.

Bauernopfer, weil sie ohne strenge Hygienekonzepte davor hätten gar nicht wieder öffnen dürfen. Jeder, der zwischen den beiden Lockdowns mal im Kino, Konzert oder Theater war, sah, dass diese gut funktionierten. Viel Platz war zwischen den belegten Sitzen, am Ende herrschte Maskenpflicht auch während der Vorstellung – während sich in den Supermärkten und öffentlichen Verkehrsmitteln die Menschen schon mal auf den Füßen standen. Gerade an diesen sicheren Orten hätte man den Menschen also guten Gewissens noch ein Stück Freiheit lassen können.

Beschleunigt die Pandemie nur den Niedergang?

Wie lange die Kulturszene brach liegen und wie viel von ihr den SARS-CoV-2-Virus überleben wird, steht in den Sternen. Wird das Publikum – ausgehungert und gierig auf Live-Events – in die Theater und Konzerte stürzen? Oder werden die Leute, des terminlichen Kulturkampfs bereits entwöhnt, lieber bei Netflix auf dem Sofa bleiben? Beschleunigt die Pandemie schon vorher zu spürende Momente des Niedergangs? Enttarnt sie scheinbar lebendigen Kulturglanz gar als irrelevant und obsolet?

Die Kinos hat es bereits getroffen. Zwei der fünf größten US-Filmunternehmen, Warner Bros. und die Walt Disney Group, haben kürzlich angekündigt, alle großen Filme in Zukunft nicht mehr zuerst in den Kinos, sondern gleichzeitig auch als Stream herauszubringen. Ein fatales Omen aus Hollywood. Schon vor Corona machten die Videoplattformen und ihre Serien den Lichtspielhäusern schwer zu schaffen. Das Kinosterben hat bereits begonnen.

Zumindest die Landesbühnen, die Staats- und Kommunaltheater, die öffentlich getragenen Konzert-, Opern- und Rundfunkorchester scheinen noch gut dazustehen. Sie schützt der Schirm der Kurzarbeit – vorbildlich von den Gewerkschaften ausgehandelt. Bei großen und kleinen Privattheatern, privatwirtschaftlichen Konzertveranstaltern und frei arbeitenden Klangkörpern sieht das ganz anders aus. Die Einnahmen an der Kasse haben hier existenzielle Bedeutung. Jeder Monat, in dem nicht gespielt wird, beschert Defizite, von denen offen ist, ob und von wem sie am Ende ausgeglichen werden.

Ganz zu schweigen von den vielen Freischaffenden, denen die – schon vorher oft knappen und für Rücklagen nicht ausreichenden – Einnahmen weggebrochen sind. Ihr Anteil in Kulturberufen liegt mit 39 Prozent deutlich über dem bei allen Erwerbstätigen (zehn Prozent). Für MusikerInnen ist das monatelange Üben für umme eine wirtschaftliche und künstlerische Katastrophe. Einige halten sich mit Unterrichten über Wasser, viele haben umgeschult und inzwischen andere Jobs. Wer sitzt dann nach der Pandemie noch in den vielen frei arbeitenden Ensembles, etwa jenen der Stuttgarter Bachakademie? Auf die Frage, wie das Haus mit dem Problem umgehen wird, dass sich die freie MusikerInnen-Szene gelichtet haben wird, antwortete die Bachakademie-Intendantin Katrin Zagrosek nicht. Was die Zeit nach Corona angeht, hofft man ganz einfach darauf, dass sich bei den "Entscheidungsträgern" das Bewusstsein, dass die Kulturbranche einen "echten Wirtschaftsfaktor" darstelle, "auch in angemessenen Subventionen und Förderungen" widerspiegle, so Zagrosek. Bisher konnte sich die Bachakademie, die nur zu 25 Prozent von Stadt und Land getragen wird, auf ein treues Sponsorennetz verlassen.

Das Paradoxon der Hochkultur

Vielleicht wird es aber auch für die öffentlich finanzierten Kultureinrichtungen ein böses Erwachen geben. Nicht nur wegen drohender Etat-Kürzungen. Denn was die Anerkennung der sogenannten Hochkultur angeht, besteht seit Ewigkeiten ein Paradoxon: Einerseits ist in der öffentlichen Meinung die Auffassung fest verankert, dass Kunst und Kultur von unverzichtbarer, da identitätsstiftender Bedeutung für die Gesellschaft sind. So ergab eine Repräsentativbefragung im vergangenen Jahr zur Förderung öffentlicher Theater in Deutschland, dass 86 Prozent der Bevölkerung für die dauerhafte Bezuschussung der Bühnen mit Steuergeldern mindestens in bisheriger Höhe eintreten.

Andererseits erreicht die Hochkultur seit jeher nur ein Nischenpublikum. Zwar äußert etwa ein Drittel der Bevölkerung ein Interesse an den klassischen Kulturangeboten. Aber nur höchstens zehn Prozent gehen regelmäßig in Konzerthäuser, Theater oder Kunstmuseen – darunter überdurchschnittlich viele Frauen, ältere Menschen, Großstadtbewohner und Leute mit hohem Bildungsgrad.

Ein Problem dabei ist die Hierarchisierung. Die qualitative Unterscheidung zwischen Hoch-, Sub-, Populär- und Unterhaltungskultur ist typisch deutsch. Je diverser sich eine Gesellschaft entwickelt, desto fragwürdiger werden aber tradierte Eliteansprüche. Diese zeigten sich jüngst auch in der Empörung, mit der öffentlich finanzierte Kulturinstitutionen reagierten, als sie beim jetzigen Lockdown mit der Unterhaltungs- und Freizeitbranche in einen Topf geworfen wurden. Man pochte auf die eigene Systemrelevanz mit dem Argument, als Bildungsakteure einen Beitrag zum sozialen Zusammenhalt zu leisten.

Musentempel müssen sich öffnen, um relevant zu sein

Aber wirkt etwa die Taekwondo-Schule um die Ecke nicht weit integrativer, weil dort Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Sprachen, kultureller Hintergründe, sozialer Schichten und Schulformen miteinander trainieren? Sozialen Zusammenhalt zu bilden durch kulturelle Identitätsfindung, das war schon immer eine fade, ideologische und unterwürfig affirmative Legitimationsstrategie künstlerischer Praxis. Eigentlich ist man seit den 1960er-Jahren darüber hinaus, doch in der Corona-Bedrängnis feiern die muffigen Rechtfertigungsladenhüter Urständ, die letztlich die Kultur eher bedrohen als schützen. Denn: Gemeinschaft stiften kann jeder Sportverein besser, einfacher und billiger.

Unsere Gesellschaft wird vielfältiger, Globalisierung und Digitalisierung mischen sie auf. Der Anteil der Bevölkerung, für den die klassische Hochkultur an Relevanz verliert, dürfte steigen. Was bedeutet das für die öffentlich finanzierten Musentempel? Sie werden sich öffnen müssen, sagt etwa Amelie Deuflhard, seit 2007 Intendantin des Produktionshauses Kampnagel, das seit Kurzem viertes Hamburger Staatstheater ist. Die Stadt- und Staatstheater sollten den Lockdown nutzen, um sich Gedanken zu machen, wie sie aus ihrem elitären Status herauskommen, wie sie sich demokratisieren, ein diverseres Publikum aufbauen können. "Wenn wir als Theater relevant bleiben wollen, müssen wir gesellschaftlich zukünftig weiter in die Breite wirken", sagt Deuflhard. Bei Kampnagel schon der Fall: "Wir arbeiten mit KünstlerInnen aus migrantischen, queeren und Communities of Color zusammen, das hat unsere Publikumszusammensetzung deutlich verändert."

Zwischen Experimentierfreude und Erstarrung

Besonders schwer wird es wohl die klassische Konzertkultur haben. Dabei gibt es durchaus Orchester, die programmatisch innovativ arbeiten, Altes mit Neuem mischen, clevere thematische Zusammenhänge schaffen und sich in die Stadt hinein öffnen. Der eine oder andere Klangkörper kann auch mit einer charismatischen Persönlichkeit am Dirigierpult punkten. Vielleicht eine Perspektive für die Zeit nach Corona.

Was die Stuttgarter Klangkörper angeht, überzeugen etwa die Stuttgarter Philharmoniker durch dramaturgisch klug durchdachte Konzerte, in denen das traditionelle Kernrepertoire in immer wieder neuem Kontext beleuchtet wird. Da erklingt dann Brahms' Vierte Sinfonie auch mal neben dem Zweiten Sitar-Konzert des indischen Komponisten Ravi Shankar – und im Publikum leuchten überall bunte Saris auf. Der Sitz im Gustav-Siegle-Haus, in dem auch der Jazz-Club Bix beherbergt ist, erlaubt es dem städtischen Orchester zudem, vor Ort unterschiedliche Konzertformate auszuprobieren. "Verschiedene Musikkulturen, komponierte und improvisierte Musik, Klassik, Jazz und andere Stile in einer Veranstaltung zu verbinden bedeutet ja auch, verschiedene Hörkulturen zu konfrontieren", erklärt Albrecht Dürr, Dramaturg der Philharmoniker, "und das wollen wir in Zukunft noch weiter ausbauen."

Auch das Stuttgarter Kammerorchester, das sich zu 40 Prozent selbst finanzieren muss, fällt immer wieder positiv auf mit fein zwischen Moderne und Tradition ausgeloteten Programmen, außerdem mit innovativen Konzertformaten in lockerer Atmosphäre, in denen etwa Barock auf Techno, Jazz oder Synthie-Cembalo-Elektro-Improvisationen trifft.

Für weite Bereiche des klassischen Konzertbetriebs gilt aber, dass sich nach Corona ein längst bekanntes Problem potenzieren wird: die Erstarrung in einer reinen Reproduktionskultur der immergleichen Werke vor einem überalterten, aussterbenden Publikum. Ausgehöhlt und degeneriert erscheinen heute die konservierten Rituale einer Konzertpraxis, die im 19. Jahrhundert dem aufstrebenden Bürgertum Irritation oder Identifikation, auf jeden Fall aber Gegenwart war. Selbst die Frack-Bekleidung der Musizierenden – einst antifeudal und modern, heute rückständig und lächerlich – ist in vielen Ensembles geblieben. Nüchtern betrachtet ist diese Art klassischer Musikausübung zum Unterhaltungssektor zu rechnen. Nach kultureller Relevanz braucht man da nicht groß zu fragen. Zudem dürfte gerade die Überalterung des Publikums zum Problem werden: vor Corona zahlkräftig, danach genau die Klientel, die Zeit brauchen wird, um wieder angstfrei Menschenansammlungen aufzusuchen.

Ist Kultur systemrelevant? Falsche Frage

Aber die Frage nach der legitimierenden Relevanz, gar der Systemrelevanz von Kultur hat ihrerseits die bereits angedeutete Schlagseite. Systemrelevant im strengen Sinne ist Kultur nur in einer Diktatur, sofern sie zum unverzichtbaren Propagandainstrument verstümmelt wird. Dem entspricht umgekehrt eine dissidente, eine systemkritische Kultur, die in einem übergeordneten Sinn relevant sein mag: als Ausdruck dessen, was ist, aber ohne sie nicht gesagt werden darf oder kann. Diesen Relevanzbegriff nimmt die Kultur in einer freien, demokratischen Gesellschaft in Anspruch. Je vielfältiger und bunter sie sich offenbaren kann, desto demokratischer ist auch das Umfeld, in dem sie stattfindet. Weshalb ihre Autonomie verfassungsrechtlich geschützt wird: in Deutschland durch den Artikel 5 des Grundgesetzes, der besagt, dass Kunst "frei" sei. Gefördert wird sie, um sie vor den Zwängen des Marktes zu schützen.

Dennoch entscheidet am Ende vor allem das Publikum, welche kulturellen Veranstaltungsformen Corona überleben werden: ob Kino, Konzertreihe, Oper, ob kleine und große Theater; ob Live-Aufführungen vor leibhaftig präsenten Menschen – oder das Seriengucken auf dem Sofa.


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1 Kommentar verfügbar

  • Larissa Meng
    am 03.02.2021
    Antworten
    Ein toller Artikel mit einer wunderbaren Analyse, Danke Kontext und Verena Großkreutz!
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